Ein stürmischer Abend
Der Wind peitschte durch den Garten, versuchte Blumen und Sträucher mit sich zu reißen, der Zaun zitterte unter der enormen Kraft, die Weiden aber schwangen in geraumer Ferne ihre Äste zu dessen Melodie, die Pfeiler standen still. Der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen, welche leise ihre Tränen auf die Erde niederfallen ließen. In Strömen liefen sie am Fensterglas eines kleinen Bauernhauses hinab, umgaben die Familie, welche ihrem Alltag nachging. Nichts ließ darauf schließen, dass etwas nicht nach seiner Norm verliefe. Nach einem harten Arbeitstag, der dazu diente, für die Herren Oberaufseher und Lagerkommandanten das Feld zu bestellen, nahmen sie gemeinsam ihr Abendmahl ein. "Sie" bestand aus einem ältlichen Ehepaar, welches zu Lebzeiten kinderlos geblieben war.
Gespannte Stille lag in der Luft, nur das Kratzen der Messer und scharren der unruhigen Füße war zu hören. Währenddessen schauten sie sich nicht an. Ab und an kreuzten sich deren Blicke, um dann schnell wieder abgewandt zu werden. Keiner von beiden konnte das Bangen, die Angespanntheit des anderen lange ertragen. In der kleinen Küche wurde es immer dunkler, der Schein einer kleinen, fast zur Gänze abgebrannten Kerze, warf lange Schatten. Bei jedem Klappern und Scheppern zuckten sie zusammen.
Dann war es so weit. Es klopfte erst zweimal, dann einmal und kurz darauf dreimal. Schnell bekreuzigten sie sich, eilten zur Tür und zogen die geduckte, vom Regen durchnässte Person hinein. Diese stolperte, fiel auf die Knie und ging schlussendlich ganz zu Boden. Gekrümmt lag sie da, die Kunststoffhaare im hohlwangigen Gesicht und die lose Kleidung am abgemagerten Körper klebend. Fahrig fuhren die Hände unter die abgenutzte Jacke, während der Mann sich auf die Knie fallen ließ, um die Gestalt des anderen in eine aufrechte Position zu bringen. Dessen Frau eilte in die Küche, um Tuch, Wasser, Essen und den restlichen Stummel der Kerze zu beschaffen.
Erst, als sie sich schwerfällig neben dem zusammengesackten Körper niederließ, wurde sie dessen Zustand vollständig gewahr. Aus den Wunden, zuvor verheilt und nun wieder aufgerissen, quollen Blut und Eiter, die sich langsam zu einer immer größer werdenden Pfütze ausbreiteten. Völlig verstört von diesem Anblick, bemerkte das Ehepaar erst nicht die zitternde Hand, ein Fleckenteppich aus violetten, grünen und gelben Blutergüssen, die verkrampft ein beflecktes Packen Papier umklammerte. Entkräftet versuchte sie Worte zu bilden, die Lippen bewegten sich lautlos. "Spar dir deine Kraft.", sagte der alte Mann und entwand behutsam die Blätter. Er warf einen kurzen Blick auf die eng beschriebenen Zeilen, lehnte die bleiche Gestalt an die Wand und lief durch eine hölzerne Tür am anderen Ende des Raums in die Scheune. Voller Vorsicht wurden erst Jacke und dann Pullover ausgezogen, Wunden gewaschen und versorgt. Der Blick der Frau fiel auf die eingebrannte Nummer des Arms. Galle stieg ihr den Hals hinauf, und einmal mehr wünschte sie sich, mehr tun zu können, dass ihr Körper nicht mehr alt und verbraucht, dass soetwas nicht Wirklichkeit wäre. Aber dem war nicht so, also machte sie weiter.
Langsam kam die Person wieder zu sich. Eine junge Frau, deren Gesicht umschattet, vom Leben gezeichnet war. Unbeholfen versuchte sie aufzustehen. "Ruhig, Liebes. Alles wird gut. Du hast es geschafft.", wurde auf diese eingeredet. Scheu fing die alte Frau an, ihr über den hageren Rücken, den kahl rasierten Kopf zu streichen. Sie glaubte nicht an ihre Worte, dennoch wiederholte sie diese immer und immer wieder, wie ein Mantra. Sie verbat sich in diesem Moment, Schwäche zu zeigen, wo das gebrochene Wesen vor ihr doch undenkbares erleiden musste. Knarrend ging die Tür auf und ihr Mann trat ein, einen erleichterten Ausdruck auf dem faltigen Gesicht. Sie zog eine Augenbraue hoch. Eilend Schritt er auf beide zu, ließ sich nieder und packte die Hände der Frauen. "Die Zettel bringt der Stallbursche zum Verbindungsmann. Es wird überstanden sein... Morgen schaffen wir dich fort, in den Osten." Zum Dank schaute sie beiden tief in die Augen und drückte deren Finger leicht, ehe sie wieder weg dämmerte. Von neuerlicher Angst erfasst, wurde der Aufenthaltsraum in den Keller verlegt, die Blutpfütze aufgewischt, alle Hinweise beseitigt. Es schien so, als wäre nichts gewesen, als sei es ein Abend wie jeder andere. Und als die SS-Soldaten die Tür aufrissen, konnten sie so tun als sei nichts geschehen. Die Möglichkeit einer Inhaftierung kurzzeitig verschoben. Am nächsten Morgen wurde das Mädchen weg gebracht, sie sahen es nie wieder.