Abschiede sind eine merkwürdige Angelegenheit. Man durchläuft jeden Tag den alten Trott, ändert bis zum letzten nichts an seiner Routine, um einen Fortbestand vorzugaukeln, der nicht gewährleistet wird. Man klammert sich verzweifelt an all dem, was Einem vertraut geworden ist, fest, weil es tröstlich ist, zu wissen, was auf Einen wartet. Man muss in der Zeit weder in Bewegung bleiben noch Angst vor dem Ungewissen haben; die Leute kennen Einen und so unsympathisch einige manchmal auch erscheinen mögen, sind sie doch ein fester Bestandteil des Alltags geworden, Personen, mit denen man umzugehen vermag, deren Interessen, Ecken und Kanten man kennt; Leute, die Einen aufwachsen sahen. Und dann soll nichts mehr so sein wie bisher.
Frühs steht man wie gewohnt auf, durchläuft den alten Gang, bis man auf einmal die letzten zwei Stunden Zeugnisausgabe bewältigen muss, in welchen man an nichts anderes als den Abschied denkt, die Anwesenheit des besten Freundes neben sich spürend und doch ganz allein fühlend. Und man denkt an die neuen Flure, durch welche die Füße Einen sechs Wochen später tragen, die neuen Menschen, welche den kommenden Alltag prägen werden. Vor allem geistert Einem jedoch durch den Kopf, dass man die Person neben sich nicht wiedersehen wird, sie Einen nicht mehr durch den Schulalltag rettet, dass man sie nicht mehr so einfach zu Gesicht bekommen wird, weil eine himmelsweite Distanz zwischen ihnen liegt. Man denkt an die immer seltener eintreffenden Nachrichten, welche der stressige Alltag mit sich bringen wird, das nötige schwindende Vertrauen, die emotionale Entfremdung, bis nur noch Erinnerungen bleiben. Und darauf folgt unweigerlich die Frage, wie gut man den anderen eigentlich kannte. So blickt man ihn einfach stumm an, legt all die Gefühle in den Blick, um diesen zu zeigen, wie viel er einem bedeutet, da die Stimme dazu nicht mehr in der Lage ist. Ein Kloß im Hals verhindert die aufkommenden Worte am Hervordringen, Tränen warten nur darauf, vergossen zu werden und die Knie würden unter einem nachgeben, stände man in dem Moment. Doch diese Gefühlsausbrüche will man nicht herauslassen und so starrt man weiter vor sich hin, dem Zusammenbruch nahe, saugt den Anblick seines Gegenübers auf, versucht den Augenblick gefrieren, das Bild konservieren zu lassen; man genießt die letzten Minuten, Stunden, lässt den Schmerz über sich hinwegschwappen.
Dann ertönt das letzte Mal das Klingelzeichen, man verlässt das letzte Mal den altbekannten Raum, läuft das letzte Mal die maroden Treppenstufen herab, gemeinsam mit den anderen, Seit an Seit. Auf einmal kommen von überall her gute Bekannte, man könnte nahezu Freunde sagen; sie drücken und verabschieden Einen, sagen, man bleibe in Kontakt und immer für einen da, schließlich wäre das eine Freundschaften fürs Leben, man bedeute ihnen ja so viel. Und man denkt an nichts anderes, als dass Worte Schall und Rauch sind, dass das Leben zu schnell und doch unerträglich langsam ist. In den Armen der anderen liegend, wünscht man sich nichts sehnlicher, als den besten Freund ein letztes Mal zu halten, weil er ein eben solcher Einzelgänger wie man selbst ist, weil man ihn nicht mehr sehen wird, obwohl er der einzige Mensch ist, der Einen zu erreichen vermag. Er versucht optimistisch und ausgeglichen zu sein, die Verabschiedungswellen gelassen über sich branden, keine Gefühle nach außen dringen zu lassen, eine Fassade zeigend. Und während alle anderen auf Einen einreden, möchte man mit niemanden lieber darüber reden, als mit ihm. Gleichzeitig drängt Einen alles dazu, diesen Freunden zu sagen, wie gern man sie hat. Stattdessen bekommt man kein Wort heraus, eine Seltenheit. Die eigenen Augen suchen nach den nicht minder überforderten Augen des Vertrauten, der alleine an der Treppe steht. Und dieser Anblick ist zu viel, gibt einem Rest, man hypersensibilisiert und versucht zugleich, die Beherrschung nicht zu verlieren; die Hände werden klamm, man schaut ins Licht, um die Tränen zurückzuhalten, setzt eine Maske auf, die bröckelt. Die anderen verstreuen sich langsam und man bleibt zu zweit zurück, setzt sich zusammen hin, durchlebt noch einmal die Momente, die Einen zusammenschweißten, nimmt die Anwesenheit des anderen mit jeder Zelle des Körpers wahr; man tauscht sich über alles und nichts aus, nur über den Abschied nicht. Ein letztes Mal lässt man die innige Verbundenheit aufblühen, vergisst alles um sich herum.
Und dann ist der Moment gekommen, man steht zusammen an der nahezu leeren Bushaltestelle, während die letzten Körner der Sanduhr hinunterrieseln. Erst da hält man aneinander fest, klammert sich an den anderen und überwindet kurzzeitig die Scheu vor Körperkontakt. Und in dieser Umarmung liegt all das, was gewesen ist, was hätte sein können. Man spürt den inneren Schmerz, als wäre man körperlich verwundet worden: heftig und qualvoll. Alles scheint man intensiver wahrzunehmen: Seinen Geruch, den der Abgase und des Unrats; man fühlt den weichen Baumwollstoff des T-Shirts, die länglichen Muskeln unter den Fingern, die lockigen Haare an der Wange; man hört das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter im Wind, das Geschnatter der Leute an den Haltestellen nebenan, die vorbeifahrenden Autos, seinen Atem. Dann rollt der Bus hinan. Man lockert seine verkrampften Finger, baut die Schutzmauern wieder auf und lächelt sich an, selbst wenn einem das Herz noch so schwer ist. Gleichzeitig fragt man sich erneut, was in den anderen vor sich geht, doch man wird es nie erfahren. Und so gesellt sich die unbeantwortete Fragen zu den Myriaden anderen.
Hastig zückt man seinen Busausweis, währenddessen er nervös an seinem Fahrradhelm spielt. Auch er sagt, dass man sich wiedersieht, nicht aus den Augen verliert, weil man einander wichtig ist, sich wiedersehen will. Und dieser Gedanken hat etwas zutiefst tröstliches, man fühlt sich geneigt, dem zuzustimmen, weil man hofft, dass es Wirklichkeit wird und doch schnaubt der Realist in einem bloß, legt seine imaginäre Hand mitfühlend auf die Schulter und raunt einem zu, dass stattdessen die geschätzten Bücher auf Einen warten, Einen nie allein lassen werden. Doch zum ersten Mal reicht einem dieser Gedanke nicht. Und diese Erkenntnis raubt Einem den Atem; man kann nur noch zum Abschied winken, nichts mehr sagen und schon gar nicht zurück blicken, weil die Tränen sich nun doch ihren Weg Bahn gebrochen haben.
So zwängt man sich blind, die Welt vor den Augen verschwimmend, die ganze Zeit auf die Lippen beißend, den engen Gang entlang bis ganz nach hinten. Und sobald man Platz genommen hat, der Bus nimmt langsam an Fahrt auf, der beste Freund wird im Rückspiegel immer kleiner, stürzt alles auf Einen ein; die Tränen, welche mühsam zurückgehalten worden, drängen endgültig heraus und laufen brennend kalt die Wangen herab, benetzen die angespannte Haut, die Lippen. Alles, was man verloren hat, tritt plakativ vor Augen. Und dann, auf dem Höhepunkt der Schmerzwelle angelangt, gesellt sich ein weiteres Gefühl dazu: Aufbruchsstimmung. Auf einmal hängt alles in der Schwebe, man ist hin und her gerissen zwischen Euphorie und Schmerzen, fühlt sich einerseits losgelöst und andererseits fest verankert. Neue Chancen tun sich vor einem auf und all das, worauf man sich seit Monaten freut, ist wieder allgegenwärtig. Man denkt an die unschönen Momente der letzten Jahre, den Hass, die Gehässigkeit und Intoleranz der Klassenkameraden, an ihre Engstirnigkeit, und schon wird Einem leichter zumute. Ein zartes Lächeln zeichnet sich auf dem Gesicht ab, man erblickt vor seinem geistigen Auge alles, was noch sein könnte, bis sich sein Gesicht vor die Szene schiebt und alles von vorne auf einen einstürzt. In Zeiten des Schmerzes brandet nicht nur eine Welle gegen die Klippen.