Bettgenossen und Weggefährten

Des Abends kommen sie, schaurig-bittre Gedanken, gnadenlose Kreaturen namens Zweifel, die sich unermüdlich an die Oberfläche kämpfen, nach Schweiß, Angst und Hilflosigkeit lechzen. Er stellt sie sich wie Vielfräße vor, die einen Tropfen seines Schmerzes gekostet und seitdem nicht aufgehört haben, ihn zu verfolgen. Sie sind die Ausdauerndsten und Gierigsten, diejenigen, welche nicht eher ruhen, als dass sie ihn vollends aufgezehrt haben. Sie geben nie auf. Das zeigt ihm jede Dämmerung, wenn die Welt um ihn zur Ruhe kommt, aufs Neue.

Und der innere Zwiespalt gesellt sich stets hinzu. Er lebt in den Tag hinein, verplant jede freie Sekunde, und doch steht er am Abend da, fragt sich, was das alles gebracht hat. Das, was er wirklich erreichen möchte, wird nie zur Blüte reifen. Indes erwacht der Drang, sich zu behaupten, der Wille, etwas zu erschaffen, Morgen für Morgen erneut, um sich daraufhin so schnell zu verabschieden, wie die letzten verblassenden Sterne. Eine Flamme, die heiß und hell auflodert, ehe sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden nahezu vollends erlischt.

So drückt er sich vor dem Schreiben, um die kommende, bittere Niederlage nicht schmecken zu müssen. Denn er sitzt da und schaut die paar Zeilen an, ohne weiter zu kommen, verzweifelt darum bemüht, den Ansturm an Gedanken Herr zu werden. Er müsste nur zufassen, sich Ideen, Emotionen und Gedanken hingeben. Doch das wäre gleichbedeutend mit dem Umstand, dass er sich selbst findet. Und er weiß noch nicht, ob er dazu in der Lage ist. Er müsste es nur zulassen, den Gedanken freien lauf, doch wäre das bereits zu viel für ihn. Zu nah an sich selbst heran. Wie viele können schon sagen, dass sie sich selbst wirklich kennen? und vielmehr noch, dass sie damit ihren Frieden gefunden haben? Menschen suchen den Kontakt anderer, um nicht mit sich selbst ins Gespräch kommen zu müssen. Wer weiß schon, was er zu hören bekommen würde? Welche dunklen Abgründe in einem lauern? Was würde passieren, wenn man sich selbst nicht ausreicht, erkennen muss, seinen Idealen niemals nah genug kommen zu können, da man ist, wie man ist?

Er will intelligent und ein guter Mensch zu gleich sein. Doch viele tun so, als gäbe es lediglich ein entweder oder, als würde das Eine das Andere ausschließen. Und manchmal glaubt er, nichts von beidem sein zu können. Er traut sich nicht, sich frei zu entfalten, besitzt nicht das nötige Vertrauen dafür. Hart muss er kämpfen, für jeden einzelnen Schritt mit sich ringen, denn die Erwartungen anderer lähmen und begraben ihn, bis nicht mehr genug Luft zum freien Atmen bleibt. Aber er versucht es trotzdem, ab und an, arbeitet an Projekten voller Fleiß und Müh, mit Liebe voller Inbrunst, eine um die andere Stunde Übermaß. Vergebens, so scheint es. Kritik hagelt, reißt Löcher in die Dünne Schutzwand seines Selbstbewusstseins. Seine Herzensarbeit wird zerfleischt, von seinen Klassenkameraden verhöhnt und ins Lächerliche gezogen. Nicht, weil sein Opus grauenhaft ist, sondern ein Abbild seines innersten Selbst, voller Begeisterung, Zweifel, Gefühl, Ideen, Gedanken, Prinzipien, Nachsicht und Farben. Er gehört nicht zu ihnen, und das lasten sie ihm an, geben sie ihm zu spüren.

Um ein besserer Mensch zu werden, muss er Gefühle willkommen heißen, doch eben diese Schmerzen, reißen ihn mit sich und ertränken ihn in den Fluten. Sie drücken ihn nieder, lasten wie Betonblöcke an seinen Füßen. Überall sieht er ihn lauern, den Schmerz, nahezu in jedem Winkel, jeder Ecke sprungbereit wartend. Wenn man sich nicht vor ihm verschließt, ihn nicht schultert, geht man nicht irgendwann in die Knie? Und doch, und doch. Entspringt Toleranz und Verständnis nicht aus eben jenem Quell, der uns einfühlen und hinterfragen heißt? Aber wie kann er ihnen das verzeihen? Sollte er es überhaupt? Ist derlei zu tolerieren? Im allgemeinen, nein. Ihm schießen unzählige Gründe durch den Kopf, welche gegen solche Behandlungen aufbegehren, sie nicht akzeptieren. Doch daraufhin wispert eine Stimme bedachtsam: Ja, aber wie sieht es in deinem Fall aus? Erst in dem Moment beginnt die allabendliche Fahrt durch seine ganz eigene, personalisierte Geisterbahn. Es könnte mit der Zeit langweilig werden, aber darüber sorgt er sich nicht; sie wird mit jedem Tag etwas länger.

Nur der Schlaf bringt Erlösung und Vergessen, umnachtet seinen geplagten Geist, reicht ihm lindernden Balsam und bettet ihn zur Ruhe. Zeitweilens entbunden von Zwängen, von Erwartungen und ständigen Niederlagen, losgelöst von anderen, von sich selbst. Für ein paar Stunden. Dann fängt alles von vorne an. Der Funke glüht auf, in dem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein. Und dann schlägt er seine Augen auf; ihm fällt wieder ein, wo er sich befindet, was ihm bevorsteht und vor allem, wer er ist. Sein Kissen lässt er salzverkrustet zurück.

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