Dämmerungsgedanken
Die Strohsäcke rascheln, als das Kommando des Blockältesten leise, aber entschieden ertönt, damit wir uns auf die andere Seite betten. Eng aneinander gedrängt, die Knochen des Nebenmanns spürend, drehen wir uns wie ein Mann um. Ächzer und Seufzer ertönen, aber niemand sagt ein Wort, keiner klagt über sein Los, über die Agonie, welche die neuerliche Prügelstrafe hervor gerufen hat. Der gebrochene Blick, die Resignation darin, sagt mehr als Worte es je könnten.
Sie schlafen wieder ein. Das merke ich daran, wie ihre Atmung wieder langsamer, schwerer wird. "Und irgendwann endet sie ganz.", schießt es mir durch den Kopf. Und das nicht in allzu ferner Zukunft. Am Anfang konnte ich nichts davon realisieren, war in einer Schockstarre gefangen gewesen, ehe mich dieser Gedanke fast zu Tode geängstigt hat, Verzweiflung machte sich dann stets breit, Tränen schnürten mir die Kehle zu, mussten zurückgehalten werden. Mittlerweile ist das alles so fern. Ich fühle mich so ausgehöhlt. Als hätte alles an Bedeutung verloren. Da ist nur noch das hier und jetzt, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nebel macht sich in meinem Kopf breit, Gedanken schwirren darin träge hindurch. Der Schlaf drückt meine Lider gewaltsam hinunter. Aber aus irgend einem Grund kann ich nicht einschlafen. Es ist auch nicht der Hunger, welcher sich wie ein wildes Tier in die Eingeweide krallt. Nicht die offenen Wunden, in die der Dreck drückt, in die der vom Schmutz getränkte Schweiß rinnt. Nicht die drückende Hitze, welche den unerträglichen Gestank der Exkremente um ein vielfaches verschlimmert. Etwas anderes regt sich in mir. Eine Gestalt beginnt in den grauen Nebelschleiern Form anzunehmen. Fast kann ich sie fassen, nach ihr greifen. Das laute knurren eines weiteren Magens reißt mich aus meinen Überlegungen. Die Gestalt fällt in Dunkelheit zurück. Mein Geist trübt sich wieder. Der aufblitzende Funke erlischt.
Durch die aneinander gereihten Betten, über die unzähligen Körper hinweg, kann ich einen Blick auf den kleinen Streifen Himmel des anbrechenden Tages, auf die verbleibenden Gestirne werfen. Früher hat mir der Blick auf die weit entfernten Sterne Hoffnung gegeben. Aber diese habe ich bald verloren. Vor dem Tor gibt es noch Hoffnung, doch dahinter, von Stacheldraht umzäunt, gefangen, stirbt sie, so wie das Leben. Die Dämmerung ist nun nicht mehr fern. Meine Hände fangen an, leicht zu zittern. Ein weiterer Tag im Baukommando, ein weiterer Tag voller Willkür und Leid, ein weiterer Tag bar jeglichen Lebens. Erschaffen, um Leben zu beenden, so ist die Devise. Ein Teil von mir möchte aufgeben, nicht mehr nachdenken, nicht mehr fühlen, einfach liegen bleiben. Aufhören zu existieren. Die SS-Soldaten würden dafür sorgen, daran hege ich keine Zweifel. Habe es oft genug erlebt. Kranke, von Seuchen Dahingeraffte, vom Hunger Ausgezerrte, die von den SS-Männern Muselmänner genannt werden, rühren sich nicht mehr, schaffen es auch durch unsere Hilfe nicht auf, bis die SS ihnen die Arbeit abnimmt und sie auf jegliche Weise bearbeiten, bis sie nie wieder aufstehen. Und das nennen wir Alltag.
Für das Schöne habe ich schon lange jeglichen Sinn verloren, dafür gibt es hier auch nicht sonderlich viele Gelegenheiten. Und diese werden von dem alles umfassenden Grauen überschattet. Es ist mehr, als ein Mensch, mehr als irgendjemand schultern kann, aber wir tun es. Der Grund, warum wir das alles ertragen, der Grund ist es, nach dem ich suche, den ich nicht zu fassen bekomme. Ich werfe einen weiteren Blick auf die anbrechende Dämmerung. Die letzten Sterne verblassen langsam, doch da fällt es mir wieder ein. Da blitzt der Funk wieder auf, wandelt den Aschehaufen, der ich bin, auf einmal in aufflammende Lohe um. Und kurz darauf folgt der Hass, auf die willigen SS-Soldaten, die Blockältesten und all jene, die diese Schandtaten unterstützen, auf diejenigen, die mich meine Lieben, meine Vergangenheit vergessen ließen. Auf diejenigen, welche mich zwingen, fernab meiner Familie den Sternen dessen Namen zu geben und zu hoffen, dass sie nicht das selbe Schicksal ereilt. Sie, für sie und für all meine Leidensgenossen und deren Familien werde ich kämpfen. Für mich und eine bessere Welt.
Der angebrochene Tag vertilgt die letzten Sterne am Himmelszelt, doch in meinem Kopf, in meinem Herz strahlen sie weiter, heller, als seit einer kleinen, unendlich langen Ewigkeit. Und die Dämmerung steigt in Rot-, Gold- und Orange-Tönen hinauf. Die Stimme unseres Lagerkommandanten schalt aggressiv durch die schwüle, von Unrat geschwängerte Luft. Aber das kann mir heute nichts anhaben. In meinen Gedanken sind meine Kameraden, meine Lieben. Und daraus schöpfe ich meine Kraft, stille den einzigen Hunger, den zu stillen ich in der Lage bin. Also stehe ich auf, und stelle mich dem Kommenden. Weil ich nicht nur eine Nummer bin, weil es auf keinen von uns zutrifft. Solange wir daran festhalten, gehen oder sterben wir aufrecht und erhobenen Hauptes.