Vom Dogmatiker zum Zweifler:

Voller Liebe schaut sie unsere Tochter an. Zärtlich streicht Hedwig über das feine Gesichtchen Ingebrigitts. Eine schnelle Geste  voller Zuneigung. So alltäglich, so vertraut. Aber ich spüre, wie mir die Kehle eng wird, Tränen hinter meinen Augen drücken, verlangen, laufen gelassen zu werden. Ein anderes Bild schiebt sich über die familiäre Szene.

Meine Gedanken schweifen zum Vormittag ab, als die unzähligen Züge ankamen. Mehrere Waggons voller Frauen und Kinder. Sie stolperten hinaus, mitten in meinen Trupp hinein. "Achtung.", rief ich mit der Autorität des Oberkommandanten. Aber dieser Ausruf war im eigentlichen Sinne nicht notwendig, sie wussten schon, was zu tun war. Sofort begannen sie die Nachricht zu verbreiten, dass das Lager fast voll wäre, weswegen ältere Damen und Kinder in einem anderen untergebracht werden sollten. Das brachten sie im ruhigen, charmanten Ton hervor. Der Platz füllte sich. Immer mehr Leute stiegen aus, Frauen mit dem Gepäck in der einen, und ihrem Kind an der anderen Hand. Völlig erschöpft und abgekämpft aussehend. So viele hatte ich nicht erwartet, nicht annähernd so viele. Und die Hälfte von ihnen würde die nächsten Stunden nicht überleben. Das konnte nicht... Stopp! Maßregele ich mich sofort. Entzürnt über den Verrat meiner Gedanken. Dazu bin ich schließlich hier, dafür hat Himmler mich eingesetzt. Um das Judenvolk zu vernichten, allesamt. Und dennoch. Da war diese eine Frau, Hedwig nicht vom Aussehen, jedoch von Gestik und Mimik her ähnelnd. Und sie klammerte sich mit aller Kraft an ihre kleine Tochter, die verschreckt aus großen Augen zu ihr aufschaute. Die Jüdin, etwa im Alter meiner Frau, redete schnell auf die kleine ein. Zumindest bewegten sich ihre Lippen unaufhörlich. Ich konnte einfach nicht den Blick von ihnen wenden. Und als die beiden an der Reihe waren, zeigte der stationäre Lagerarzt nach rechts.

Die Angespanntheit schwand aus beiden und die Mutter strich einmal zärtlich über die Wange des Kindes, lächelte leicht. Ihr würde das Lächeln vergehen, der zarte Hauch von rosa würde aus ihren Wangen entweichen. Danach waren sie meinem Blickfeld entschwunden. Da hatte ich sie zum ersten Mal gesehen, das zweite Mal jedoch... Ich hoffte, dass es zu keinem zweiten Mal käme, doch vergeblich. Es war so unge... Halt! Wut steigt in mir auf. Wer sind die, dass sie mich in meinem Glauben wanken lassen?! Dass sie es schaffen, mich an Hitler, dem Messias meines Gottes, zweifeln zu lassen?! Das ist alles, worauf ich jemals hingearbeitet habe. Alles, wofür ich kämpfe. Meine Familie, meine süßen Kleinen, mein Vaterland. Die Juden sind nur primitive Wesen, verantwortungslos, unfähig dazu, ihrem Gegenüber Menschlichkeit oder gar Liebe zu zeigen. Doch da sehe ich wieder diese Familie vor mir, die Liebe, mit der sie einander betrachtet haben, als gäbe es für sie nichts wertvolleres. Mein Blick hat sich währenddessen unwillkürlich zum Fenster gewandt. In der Ferne, gerade so zu erahnen, ragen die Pfeiler des Zauns gen Himmel. Und ich frage mich, ob das, was ich als meine Heilige Aufgabe betrachte, wirklich das richtige ist, ob das Böse wirklich biologisch bedingt oder ob es viel eher der Wille ist, welcher dahinter steckt. Meine Gedanken triften wieder ab. 

Das zweite Mal erblickte ich sie, als das letzte Kleidungsstück der Kleinen aufgehängt wurde. Ein kleines Unterhemd, nicht breiter als das eine Bein meiner Hose. "Ihr müsst euch gut die Nummer eures Hakens merken. Je mehr ihr euch beeilt, desto schneller kommt ihr wieder zu euren Familien.", wandte sich der Sonderkommando-Häftling in ihre Richtung. Am liebsten hätte ich zugehauen, meine Faust in dieses arglose Gesicht geschmettert. Doch dann musste ich daran denken, dass er eigentlich nur das tat, was wir ihm zu tuen aufgetragen hatten und ich lockerte meine Hände. Langsam wurden alle in die Kammer getrieben. Die beiden gingen als eine der letzten hinein, sich aneinander festhaltend. Wie die Tür zu ging, bekam ich nicht mehr mit. Ich drehte mich um und ging, wollte nicht sehen, wie die kleine Leiche aus dem Raum gezogen werden wird. "Alles gesetzmäßig. Weiter machen.", sagte ich zu einem der SS-Soldaten. Dieser zeigte den Hitler-Gruß und antwortet: "Verstanden, Oberkommandant Höß." Ohne Antwort schritt ich von dannen und...

"Schatz, ist alles in Ordnung?", reißt mich Hedwig aus meinen Gedanken. Ich kehre wieder ins Hier und Jetzt zurück, bemerke, dass die Dämmerung eingesetzt hat,  nehme den fein herben, aromatischen Geruch unseres Abendessens war, sehe meine fünf Kinder gemeinsam im Garten spielen, unweit des Lagers. Plötzlich frage ich mich, wie lange ihr Glück noch andauern wird, habe Angst um ihre Zukunft, um die meiner Frau und um meine eigene. Abwesend antworte ich Hedwig: "Sicher, Schatz. Alles gut, war nur in Gedanken, du weißt ja wie das ist.", Nein, weiß sie nicht, denke ich plötzlich. Und diese Verlorenheit,  dieser Zwiespalt bringt mich beinahe um den Verstand. Zärtlich legt sie ihre Hand auf meinen Arm und schaut mir tief in die Augen. Mehr, als ich ertragen kann. "Weißt du, mir fällt gerade ein, noch einen Bericht im Büro liegen zu haben, der dringend gelesen werden muss. Ich komme später wieder, esst ruhig schon ohne mich." Schnell gebe ich ihr einen Kuss, drücke die Finger und gehe aus den Raum, unfähig, ihren Gesichtsausdruck zu ertragen. 

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