Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells
Zeit fliegst du davon,
bringst du mich zurück.
In weite Erinnerungsgefilde,
Zur Geschichte einer Liebe,
einem Leben voller Schnitte,
unzähliger verpasster Vortritte.
Bringst du mich zurück
zu einer Zeit voll mit zagen und wagen
gefüllt mit Fragen,
die mich entlang tragen
auf dem Weg zu mir selbst.
Ich wusste anfangs nicht, was ich über sein Werk schreiben soll, denn den Buch raubt einem den Atem. Das soll kein Klischee erfüllen, denn ich hatte zeit weilen das Gefühl, jemand hätte mir auf die Brust geschlagen. Diese Beklemmung, diese Melancholie, Schwermut hält einen gefangen, um von heiteren Momenten abgelöst zu werden, welche wiederum in die gegenteilige Richtung kippen – Hr. Wells gelingt dabei eine Gratwanderung zwischen Lethargie sowie einem düsteren Abgrund und der Hoffnung, die trotz allem nicht erloschen ist. Diese Personen scheinen so real, so menschlich, in ihrer Unvollkommenheit vollkommen, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Es stecken so viele Erinnerungen zwischen den Seiten, verschlungen, mitreißend und authentisch geschrieben, dass man das Buch im wahrsten Sinne des Wortes nicht weg legen kann - meine Augen klebten förmlich daran, mein Herz hat eine Bindung dazu aufgebaut, einer Schnur gleich, die von meiner Brust zum Buch hin führt.
Hr. Wells hat eine bedeutsame Geschichte zu erzählen, die sich aufs Papier ergießt und in der Form von Jules Erinnerungen manifestiert. Diese erzählen von einem Schicksalsschlag, den er und seine zwei Geschwister in jungen Jahren erlitten, wie sie mit diesen Verlust umgehen, wie Worte sie prägen und in ihren kommenden Jahren beeinflussen, erzählt davon, wie sie die Einsamkeit überwinden, sich in ihren Brüchen selbst finden und was sie all das durchstehen lässt – und dazu gehört natürlich auch eine große Liebesgeschichte, die viel Stärke und Schmerz besitzt. Am Ende schließt sich der Kreis und das Buch erfährt ein würdiges Ende.
Und all das schreibt er in tiefgreifend schönen, eindringlichen Sinnbildern, die von Einfühlsamkeit durchdrungen sind, und in Sätzen, die sich im Gehirn festbeißen, nicht mehr los lassen. Es fühlt sich an, als wäre eine verrostetes Scharnier aufgebrochen, welches die abgestandene innere Luft hinauslässt und stattdessen von frischen, peitschenden Winden ersetzt wird, denn diese Emotionen und Gedanken fühlen sich rein und pur an, selbst wenn schwere Gewichte auf ihnen lasten. Ich bin ein großer Verfechter davon, inspirierende Textzitate abzufotografieren, um sie immer bei mir zu tragen und zuweilen durchzulesen – dabei ist es immer bemerkenswert, welche Verbindungen einem auffallen, wenn man das Gelesene nach einiger Zeit aus einem neuen Blickwinkel betrachtet.
Wichtig an einem Buch ist, was es in unsere Köpfe und Herze hineinsteckt – dabei nehmen die eigenen dazu gedachten Gedanken beinahe einen ebenso hohen Stellenwert ein wie das geschriebene Wort des Autors. Und Hr. Wells hat von beiden mehr als genug zu bieten. Er stellt darüber Fragen, weshalb wir so werden, wie wir sind, welche Umstände uns prägen und wie sie uns verändern, wie es kommt, dass wir trotz all der zig Billionen Möglichkeiten genau auf diesem unserer Wege gelandet sind – und vor allem fragt er, was in uns trotz all dem Zufall und den getroffenen Entscheidungen unveränderlich ist. In dem Sinne erinnert er mich ein wenig an Auster mit seinem Buch „4321“, welches die selbe Frage stellt. Seine Antwort ist nicht minder gut.
All das lässt einen auch öfter über andere Menschen nachdenken, wirft Fragen darüber auf, weshalb diese Personen so geworden sind, wie sie heute vor uns stehen. Es gibt immer Gründe, auch wenn wir sie nicht stofflich vor uns sehen. Mir scheint manchmal, deren Haut wäre Papier, beschrieben mit Erinnerungen, in ihnen eine Geschichte. Man muss nur tiefer graben.
Letztendlich ist die Vorstellung, man würde an Erinnerungen vorbeiziehen und nicht an der Zeit, ebenso verzweifelt wie tröstend – all die Situationen wären noch vorhanden, alle Personen an ihrer Stelle und man müsste nur zurückgehen, gleich die Seiten in Büchern zurückblättern, damit es wieder so ist, wie es war. Durch die gewundenen Pfade von Jules Erinnerungen könnte man das auch glatt glauben – das Problem ist nur, dass wir lediglich in unserer inneren Welt rückwärts gehen können; in dieser hier ist es uns untersagt. Doch das Schöne ist, dass man es ebenso andersherum handhaben kann – statt die Vergangenheit wieder zur Gegenwart werden zu lassen, kann man sich vorstellen, wie Jules Geschichte weitergeht, auch wenn sie nicht niedergeschrieben steht. Irgendwann wird er am Erlebten vorüberschreiten, wir müssen es uns nur denken – so wird er uns nie ganz verlassen.
Mir scheint es, als hätten wir uns gegenseitig durchdrungen, denn es fühlt sich so an, als wäre ich im Buch gefangen, umhüllt von Worten, und auf der anderen Seite scheint mir gar, dass diese Seiten meine inneren Wände bekleben, nicht mehr abgehen. Wer berührt, durchdrungen und zum Nachdenken angeregt werden will, ist hier also genau richtig.
Da dieses Meisterstück an Literatur teilweise unter dem Lied „Between The Bars“ von Elliot Smith sowie dem Nick-Drake-Album „Pink Moon“, welches ebenfalls ein wichtiges Bindeglied zwischen Alva und Jules darstellt, geschrieben steht, solltet ihr während dem Lesen unbedingt einmal hineinhören. Die Lieder transferieren den selben Grundton, der im Buch vorherrscht, sodass man tiefer in die Abgründe hineintauchen kann. Weiterhin lud jemand auf YouTube eine Playlist zum Buch hoch, die man sich nicht entgehen lassen sollte:
https://www.youtube.com/playlist?list=PLBkDbj9e7rE0cZK16UxyA-Unv1qUAuIzu
Ein paar weitere Empfehlungen von mir wären: „The Funeral“ - Band of Horses, Lieder von Sleeping at Last, „I Lost Something in the Hills“ - Sybille Baier (ein Lied, das mich an das Waldmotiv im Buch erinnert), „The Night We Met“ - Lord Huron, „Oceans“ und „Most Of Us Are Strangers“ - Seafret, „Leave Out All the Rest“ - Linkin Park und „The Only Thing“ - Sufjan Stevens.
Ein letzter Tipp am Rande: In seiner Kurzgeschichtensammlung „Die Wahrheit über das Lügen“ sind zwei Geschichten zu finden, die es nicht in dieses Werk geschafft haben, weshalb ich es denjenigen, die gerne mehr über das Leben von Jules Vater und dessen Bruder erfahren möchten, nur wärmstens empfehlen kann. Und im zweiten Text findet ihr Jules Kurzgeschichte über streitende Bücher zu Weihnachten wieder, was ebenfalls seinen Charme besitzt.