Warum gibt es alles und nicht nichts? - Richard David Precht
Ein kleiner philosophischer Reiseführer durch Berlin: Vom Naturkundemuseum, dem Berliner Zoo, dem Mauerpark, dem Fernsehturm bis hin zu anderen bekannten und entlegenen Winkeln der Stadt spaziert er, Seit an Seit mit seinem Sohn Oskar, stetig auf der Fährte des Großen Warum, auf der Suche nach den Grundfragen der Philosophie.
Als ich zum ersten Mal das Wort „alles“ las, kamen mir zunächst nicht nur alle existierenden Dinge, sondern auch solche, die in unserer Phantasie Zuhause sind oder Ideen, welche vollkommen außerhalb unseres Fassungsvermögens liegen, in den Sinn. Und diese sind wahrscheinlich eben nicht existent, von unserer Vorstellungskraft einmal abgesehen. Auch Herr Precht konnte vorerst nicht viel mit der von seinem Sohn gestellten Frage anfangen, doch als das geklärt war, sah er sich in seiner Annahme, Kinder seien die wahren Philosophen, bestätigt. Eine Frage, die schlicht gehalten ist, aber deren Antwort nur schwer gefunden werden kann, wenn überhaupt: Warum existieren wir? Was ist der Sinn hinter dem Leben? Und alle anderen damit anfallende Fragen.
Und da Herr Precht seinem Sohn diese bedeutungsschwangeren Thematiken erklären, ihm Antworten geben möchte, ist auch der Inhalt kindgerecht und klar verständlich geschrieben, wobei er wie auch in seinen anderen Büchern sehr eloquent, angenehm und anschaulich die Situationen sowie Sachverhalte beschreibt. Daran merkt man, dass er neben Philosophie noch Germanistik studiert hatte. Da dieses Buch, diese philosophische Wanderung jedoch für Kinder (ab 10 Jahren, wobei Oskar damals 8 war) konzipiert wurde – unzählige Dialoge mit seinem Sohn schlängeln sich durch das gesamte Buch -, ist der Inhalt dementsprechend einfach und unkompliziert gehalten. Herr Precht belegt Moral- und Wertevorstellungen, Verhaltensweisen etc., welche die meisten Menschen intuitiv kennen, verstehen oder von Geburt an beigebracht bekommen haben, mit Fachwissen sowie eigenen Erfahrungen.
Wer unter euch bereits „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ gelesen hat, wird zudem auf bekannte Thematiken, Gedankenspiele, Experimente und Argumentationen stoßen. Beispielsweise befasst er sich kurz mit dem Unterbewusstsein (und wie wir wissen speichern, Dinge wahrnehmen), wir treffen auf Phineas Gage, das Trolley-Experiment, auf Tante Bertha, auf die Frage, ob man Tiere essen darf – während sie Currywurst verspeisen und die Reste wegen ihres Schuldbewusstseins dann liegen lassen! Ein moralischer Rüffel ist hiermit erteilt -, die klassische Frage nach dem „Ich“ und des weiteren. In der Richtung gab es auch ein, zwei neue Informationen, wog im Endeffekt jedoch im Endeffekt nicht den Informationsgehalt von seinem großen Durchbruch auf – was auch verständlich ist, da es als Kinderbuch dient. Und all die zusammen gewonnenen Einsichten werden am Ende eines jeden Kapitels noch einmal präzise und knapp zusammengefasst. Allerdings hätten ein paar Aussagen ausgebaut sowie eingeschränkt werden können und natürlich wäre es interessant gewesen, mehr zu den Themen zu erfahren. Für den damals 8-jährigen Oskar boten die Gespräche jedoch mehr als genug Denkanstöße; er scheint zudem ein aufgeweckter, intelligenter und neugieriger Junge zu sein. Ich frage mich nur, ob die Unterhaltungen wirklich so verliefen (vielleicht sogar aufgenommen wurden – so wie Simmels Robert Faber es tut), oder er sie sinngemäß nachkonstruiert hat.
Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass Herr Precht sich in so jungem Alter für derlei Themen interessiert hat, aber der Fall „Phineas Gage“ mit seiner Eisenstange, welche ihm durch eine Explosion einen Teil seines Gehirnes raubt, Tante Bertha (Soll sie sterben?), sowie das Trolley-Experiment (Abwägung, ob fünf Bauarbeiter von einem Zug überfahren lassen soll oder die Weiche stellt, um den Zug auf ein anderes Gleis zu leiten, wo ein einzelner Mann arbeitet) sind keine sonderlich kindgerechten Sachverhalte. Abgesehen davon kommt es darauf an, wie lange sich ein Kind konzentrieren kann, da Herr Precht zwar einen einfachen Satzbau nutzt, dafür jedoch recht detailliert schreibt. Es sind allerdings insgesamt nur 208 Seiten, weshalb das Buch schnell durchgelesen ist.
Gut, wenn es teils nicht für jüngere Menschen gemacht ist und die Erkenntnisse ältere Leser nicht unbedingt am Buch festhalten lassen, was ist es dann? Zunächst sind die vielen Hintergrundinformationen und wissenschaftlichen Studien ebenso interessant, wie sie es auch in Sachbüchern für Erwachsene wären (obwohl dort mehr stände). Er verfügt über großes Spektrum an Wissen, eine umfassende Bildung, welche nicht nur Flora und Faune umspannt, sondern auch Geschichte, Philosophie und Wissenschaft. Und wie Herr Precht zwischen diesen Kategorien Verknüpfungen herstellen kann, ist bemerkenswert. Er arbeitet fachübergreifend, denkt sehr zusammenhängend und kann diese Gedankengänge auch gut vermitteln. Als er im Naturkundemuseum beginnt, seinem Sohn die Welt zu erklären und unzählige verschiedene Fakten nennt, Gedanken äußert, sich ernsthaft mit ihm unterhält und nach seiner Meinung fragt, überträgt sich der Lerneifer ebenfalls auf einen selbst – Lernen mit ihm bereitet zusätzlich Freude und kann auch amüsant sein.
Als letztes noch: Bei den Spaziergängen wird Herr Precht bereits bei Kleinigkeiten an verschiedene Themen und Begebenheiten erinnert, wodurch er eigene Gedankenstränge knüpft, Parallelen und Schlussfolgerungen zieht. Er besitzt damit einen ganz anderen Blick auf alltägliche Begebenheiten und Dinge, als die meisten es haben, und zeigt, dass man eigentlich ständig philosophieren kann, dass dies eine Tätigkeit ist, welche sich mit der kleinsten Ecke unseres Seins befassen und viel Tiefe daraus hervorholen kann – man muss sie nur selbst dazu imstande sein, diese Tiefe zu finden und diesen Dingen zu geben. Letztendlich ist es natürlich nicht so einfach, schließlich befasst sich die Philosophie oftmals mit Fragen, auf die man eigentlich keine Antwort finden kann, was die Geschichte am Ende des Buches gut zeigt. Wir sind in dem Fall wohl der kleine Oskar, welcher sich mit der Antwort seines Vaters nicht ganz zufrieden gibt und fragt, wer „denn jetzt den Pfeil abgeschossen“ hat.
Kurzum: Es ist ein Buch, welches teils nicht ganz kindgerecht ist und aufgrund der Zielgruppe-Ausrichtung auch oberflächlicher behandelt wurde, durchaus aber seinen eigenen Charme besitzt und einige Informationen zu bieten hat. Man wird zwar keine bahnbrechenden Offenbarungen und Erkenntnisse vorfinden, aber eine faszinierende Weltsicht sowie Fakten, die einen schon einmal ins Grübeln kommen lassen sollten (Bsp. unser Gerechtigkeits- und Fairness-Empfinden) Und der Schreibstil ist zwar schlicht gehalten, dafür jedoch nach wie vor bildhaft und detailgetreu, weshalb das Schlussfazit wie folgt lautet: Die drei-vier Stunden Lesezeit war das Buch durchaus wert.