Clockwork Prince – Cassandra Clare
Nachdem der Magister sein wahres Gesicht gezeigt hat, könnte man meinen, dass er nun alle Geschütze auffährt und umso verbissener gegen die Nephilimgemeinschaft richtet, um sich Tessa einzuverleiben. Stattdessen herrscht in dieser Richtung die Ruhe vor dem Sturm; eine kurze Verschnaufpause, ehe sich seine geballte Kraft über ihnen entlädt. Und so findet Tessa die Zeit, sich bei den Schattenjägern einzuleben, wo sie ein neues Zuhause gefunden zu haben meint. Auf der Suche nach ihrer Herkunft und hoffnungslos in ihr Liebesgeflecht verwickelt, muss sie herausfinden, dass die Wahrheit nicht minder scharf schneidet, als Lügen dazu in der Lage sind.
Dieser Band stellt einen Wettlauf gegen die Zeit dar: Charlotte und die restlichen Institutsbewohner werden vor eine, wie es scheint, unlösbare Aufgabe, nahezu eine Herkulesarbeit gestellt: Sie müssen in einer Frist von 14 Tagen den Magister auffinden, sich gegen Benedikt behaupten und erneut Rückschläge aus der eigenen Familie verkraften. Dabei begeben sie sich in ein Netz aus Verrat, Machtspielchen, Manipulation, Erpressung, dunklen Geheimnisse, bitterer Vergangenheit und Ungewissheit. In der Hinsicht wird auch gezeigt, wozu beispielsweise Verzweiflung (wie in Jessamine‘s Fall – ich glaube nicht, dass sie so [nur] aus Naivität oder Liebe handelte) die Menschen treiben kann, ganz abgesehen von Stolz, Ehre und Angst. Es zeigt sich auch, dass nicht alles ganz so schwarz-weiß ist, wie es scheint, was ebenso zeigt, dass man Menschen nicht einfach be- bzw. verurteilen kann; in ihnen steckt immer viel mehr, als wir zu fassen in der Lage sind.
Diese Aussage trifft auch auf Will zu, da wir nun ebenso wie Magnus in sein düsteres, aufzehrendes Geheimnis eingeweiht werden. Und diese Geschichte, seine ganze Art, mit diesem Geheimnis umzugehen, bringt etwas in einem zum Klingen, gleich einem läutenden Herz, wie Will später einmal sagt. Jede Situation, in welcher er erneut jemanden von sich stoßen muss, fühlt sich wie ein Hieb an, es bringt ein nahezu um. Deshalb ist es manchmal wirklich merkwürdig und irritierend, zu lesen, welch negative Meinung die Leute über Will haben, wenn man seine tiefsten Beweggründe, sein gutes Herz kennt. Nur können sie davon nicht viel wissen, schließlich verbirgt er sich hinter einer Maske. „Manchmal lässt sich in Unsinn sehr viel Sinn finden - wenn man nur danach sucht.“ Und so wie er das zu Tessa sagte, trifft es auch vollkommen auf ihn selbst zu.
Damit auch die anderen, insbesondere Tessa, seine veilchenblaue Seele erkennen, wandte er sich schließlich an Magnus. Und das ist dann ein Moment, in dem meine Antennen zusätzlich ausfahren, da dieser eine schillernde, faszinierende, nebulöse, weise, gütige und hilfsbereite Persönlichkeit ist. Deshalb komme ich nicht umhin, mir Gedanken bezüglich seiner Selbst zu machen. Unsterblichkeit und all das, was damit einher geht, stellt ein unbekanntes Gebiet, fremdes Land dar. Magnus kommt einem vom Charakter her nicht wie ein uralter Greis vor, woraufhin die Frage aufkommt, ob u. a. das Äußere jung hält. Oder ist es der Wille, welcher den Ausschlag gibt? Und führt das äußere Altern dazu, dass die Leute sich dem gängigen Paradigma unterwerfen und sich der Konvention hingeben, mit dem Alter nicht mehr so agil und aufgeschlossen für Neues sein zu müssen? Ist es in seinem Fall gerade umgekehrt? Und will er, da ihm der natürlichen Tod nie ins Auge blicken wird, nicht innerlich versteinern, nicht zum Zyniker und Pessimist werden? All diese Fragen, sein Verhalten und Myriaden andere Aspekte tragen dazu bei, dass er eine grandiose, wunderbare Person ist.
Um noch einmal auf Will zurückzukommen: Die Hauptfrage lautet diesbezüglich wohl, ob er dazu in der Lage ist, sein Problem zu lösen, ehe Jem und Tessa sich immer näher kommen. Kapitel wie die Balkon-Szene lassen wohl das ein oder andere Romantiker-Herz höher schlagen und auf mehr hoffen, obwohl die Szene auch ziemlich gut zeigt, zu welchem Irrsinn ungestüme Liebende fähig sind. Ganz besonders herrlich war auch, dass sich Tessa dessen durchaus bewusst war. Andererseits schien die mit Hexenpulver versetzte Limonade eine enorme Wirkung zu haben, weshalb es ihnen nicht vollkommen angelastet werden kann. Schlussendlich ist dieser Abend in manchen Belangen ein ziemliches Highlight – nervenaufreibend, leidenschaftlich, spannend, überraschend, verletzend - und er spielt eine wichtige Gelenkfunktion für die zuoberst genannten Zeitläufe.
So tragisch Wills Vergangenheit auch sein mag, ist Jems Geschichte nicht minder dazu in der Lage, das Herz zu brechen. Nach wie vor ist sein Zeit-Wettstreit viel essenzieller, schließlich geht es um Leben und Tod. Dennoch beklagt er sich nie, strahlt permanent Liebe, Güte, Aufrichtigkeit, Nachsicht und Verständnis aus. Er verlangt auch nie etwas, doch einen Wunsch kann er sich nicht versagen: Tessa. Obwohl sich Will und Tessa wiederholt näher kommen, hat auch Jem Erfolge zu verzeichnen, dank seiner eigenen, selbstlosen Art. Ehe Tessa es sich versieht, schlägt ihr Herz nicht mehr nur bei den sturmblauen Augen, sondern auch bei den von Yin Fen erblassten, silbernen höher. Die Tragödie hat Einzug gehalten. Tessa verliebt sich nicht nur in irgend jemanden, sondern in zwei Menschen, die sich näher als Brüder stehen. Und ihr Verhalten kann man ihr nicht einmal sonderlich Übel nehmen. Umso unangenehmer wurde es zum Ende des Buches hin, weil sie sich dem Unausweichlichen stellen muss und die beiden Freunde sich unbewusst (zumindest von der einen Seite aus gesehen) tief ins Fleisch schneiden. Ihr Schmerz ist ein rein und uneigennützig.
Es sind durchaus Stimmen vorhanden, welche die Dreiecksbeziehung zu theatralisch und kitschig fanden, was absolut legitim ist. Aber eben so ein Buch ist dies hier: Man muss ganz viel Gefühl und Empathie mit hineinbringen, um sich in diese Welt, diese Beziehungen fallen lassen zu können, denn sie ist gefühlsmäßig ausschweifend und infernalisch, was absolut phänomenal ist. Wenn jemand sehr intensiv und glühend heiß empfindet, hat das nichts mehr mit Theatralik zu tun, sondern ist für denjenigen nahezu normal, weshalb es letztendlich darauf ankommt, wie intensiv jemand fühlt, wie gut er sich mit dem Buch identifizieren kann.
Die Handlung an sich stellt aber einen nicht viel geringeren Suchtfaktor dar: Die Institutsbewohner auf den Pfaden von Mortmains Vergangenheit, unerwartete Begegnungen, schaurige Einblicke in die Schattenjäger-Geschichte sowie in die schwierige Abkommens.Politik, Familien-Fehden, Trainingsstunden, Dämonenjagden und des weiteren. Ganz abgesehen davon, dass Tessas Suche nach ihrer wahren Herkunft ein zentraler Aspekt ist, die Frage, warum sie geschaffen wurde und ob sie mit ihrer Andersartigkeit überhaupt noch menschlich ist. Und genau bei all diesen Fragen und Zweifeln, auf der Suche nach einem selsbt ist es gut, jemanden an seiner Seite zu wissen, der einen unterstützt und diese Zeiten durchsteht.
Weshalb ich dann nahezu ausschließlich von den Protagonisten schwärme(!)? Mittlerweile griff ich zum 6. Mal zu diesem blauen Band, und so anregend die Handlung auch ist, lösen die Personen letztendlich diese nachwirkenden, intensiven Gefühle aus, haften in der Erinnerung. All die Momente erhalten erst durch diese Menschen ihren besonderen, tiefgründigen Zauber, und mit der Zeit sind sie zu guten, treuen Freunden, Wegbegleitern und Gefährten geworden, die man Zeit zu Zeit "wiedersehen“ möchte. Es ist auch ein Buch, welches die Lebensfreude in die Höhe schellen lässt und den Glauben an die Menschheit ein wenig stärkt. Es gibt Leute, die Gutes in die Welt bringen und ein empfindsames Herz besitzen (oder eine ausgeprägte Amygdala, wie man es nimmt). Selbst wenn ich über manche Protagonisten mehr als über andere schreibe, verdient jeder einzelne von ihnen Beachtung, Zuneigung und Liebe: Charlotte mit ihrer Empfindsamkeit, der sanftmütige Henry mit seinem Kopf voller revolutionärer Erfindungen, Gideon mit seiner ruhigen Beständigkeit, Sophie mit ihrer Mut und Loyalität und später auch Gabriel mit seinen Zweifeln.
Was man sich jedoch auch nicht entgehen lassen sollte, wie schon einmal gesagt, ist der Humor und der Biss, welcher mitschwingt. Und Bridget's furchtbare Gesänge lockern die ganze Atmosphäre für den Leser noch einmal etwas auf, ebenso wie die Zitate an jedem Kapitelanfang. Außerdem ist es ziemlich beeindruckend, wie gut sich Mrs Clare in London auskennt (vielleicht, weil sie während ihrer Jugend in England lebte) und wie präsent die Künste sind – das Violinenspiel, die Literatur sowie Kunst. Auch ihre unerwarteten Wendungen laden zum Lesen ein, ebenso wie ihr bildhafter Schreibstil, ihre Umschreibungen, Vergleiche und Metaphern, wodurch man federleicht in eine komplexe, authentische und zugleich fantasievolle Welt hineintaucht und verschlungen wird.
Und das Besondere am Lesen ist auch, dass man die Welt aus vielen verschiedenen Perspektiven neu entdeckt und beurteilt. Umso faszinierender und nahegehender kann es deshalb sein, von Menschen zu lesen, die selbst für das geschriebene Wort leben, wodurch sie die Welt ebenfalls in verschiedenen Spektren erblicken, was diese Lese-Erfahrung nochmals intensiviert. Wenn man Textstellen separiert, bekommen sie zudem noch einmal eine viel prägnantere Note, lassen einen das Werk in einem anderen, vielleicht sogar besserem Licht dastehen. Zitate brennen sich eher ins Gedächtnis ein und hallen nach. Und dieses Buch wimmelt von ihnen. Man spürt Mrs Clares Hingabe für geschriebene Worte, die Freude am Schreiben. Deshalb kann es nur besten Gewissens weiterempfohlen werden, zumal dieser Band um einiges besser als der vorherige ist.