Clockwork Angel – Cassandra Clare
Die Welt ist viel facettenreicher, als wir ermessen können. Und wer sagt, dass all das, was wir sehen, auch wirklich wahrhaftig ist und nicht bloß eine Illusion; wer sagt, dass dort draußen nicht eine Welt vor unseren Augen unter Zauberglanz verborgen liegt? In welcher es von Schattenweltlern – Vampire, Hexenwesen, Werwölfe, Feen und des gleichen -, Schattenjägern sowie Dämonen wimmelt? Ganz nach Shakespeare: „Es gibt mehr Ding´im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.“ Und was geschieht, wenn man ungewollt in diese Welt hineingerät, nicht mehr entfliehen kann, sich plötzlich einer existenziellen Wahrheit stellen muss und das eigene Leben sowie das geliebter Menschen in Gefahr schwebt?
De facto hätte diese Einleitung ebenfalls für die Chroniken-der-Unterwelt-Saga verwendet werden können, da diese nicht nur die Nachfolge-Reihe darstellt, sondern auch einige Variablen aufweist. Interessanter Weise erschien dieser Band hier ein Jahr vor „City of Fallen Angel“, also wurden die Sagen beinahe gleichauf geschrieben, weshalb es nicht sonderlich überraschend ist, auf bekannte Familiennamen zu stoßen. Die Meinungen scheiden sich jedoch darüber, welche der Chroniken mehr zu verzaubern vermag, schließlich besitzt jede ihren ganz eigenen Charme. Dennoch kann ich nicht verhehlen, dass diese Geschichte mir etwas stärker am Herzen liegt und ich jedes mal Freudensprünge vollführen könnte, wenn mir der Gedanke an die Reihe aufkommt: Pure Liebe und Buchbegeisterung!
Anschaulich, detailverliebt und bildhaft entführt uns Frau Clare in das verregnete London des späten 19. Jahrhunderts, wo es in der Unterwelt erneut brodelt, was die Schattenjäger vor eine Schwierige Aufgabe stellt: Ungeklärte Mordfälle lösen, den Magister von seinen dunklen Machenschaften abbringen und den Fortbestand der Nephilim sowie den des Abkommens sichern. Und im Mittelpunkt all dessen findet sich Tessa, eine normale Irdische, wie sie glaubte, wieder, vorerst auf dem Weg zu ihrem Bruder, ehe die große Suche nach ihm beginnt und ihr komplettes Leben auf den Kopf stellt. Ganz im Zeichen des Ouroboro – das Ende und der Anfang der Welt. Tessa sieht sich mit der elementaren Identitätsfrage konfrontiert – Was macht sie aus? Was ist sie? Ist das wirklich sie, die ihr im Spiegelbild entgegenblickt? -, ohne eine Antwort darauf zu erhalten, was ihre Gefühlswelt ziemlich ins Wanken geraten lässt. Tessa ist jemand, der immer Fragen stellen muss, nachhakt und nachsinnt, wodurch die Autorin uns tiefe Einblicke in ihren Kopf gewährt, uns einen charakterstarken, gefühlvollen, mutigen, ehrlichen, nachsichtigen und intelligenten Menschen zeichnet, den ich einfach ins Herz schließen musste.
Vor allem ihre (und später auch Wills) Begeisterung für Bücher ist nicht nur sympathisch, sondern wirkt auch ansteckend, weshalb mich beim Lesen ebenfalls Überschwang und Hingabe überkommt, was durch die Zitate an den Anfängen eines jeden Kapitels nochmals gesteigert wird – vielleicht werden dadurch auch einige Alte-Klassiker-Liebhaber geboren. Am Rande: Abgesehen von Eine Geschichte aus zwei Städten, welches Buch den beiden sehr am Herzen liegt (unbedingt empfehlenswert!), las ich auch Vathek, was so ziemlich das Grausigste darstellt, was mir je unter die Augen gekommen ist; Will und Tessa besitzen teils einen sehr interessanten Geschmack. Es ist aber nicht nur ihr besonderer Draht zu den Büchern, der am Buch festhalten und jede Seite inhalieren lässt (wobei die nächsten Bände noch ein Stück intensiver und besser sind), sondern ebenfalls die Chemie zwischen Tessa und Will, ihrem ironischen, schlagfertigen Retter. Man merkt eindeutig, dass er aus der Linie der Herondales stammt: Nicht nur bildschön (wie es Mrs Clares Charaktere nahezu immer sind), sondern auch scharfzüngig, gleißend hell leuchtend, temperament- und hingebungsvoll sowie tief und dunkel wie die Nacht. Zwischen den beiden funkt es nicht nur, sondern es blitzt regelrecht; nach jedem gemeinsamen Auftrag, nach jeder Unterredung kommen sie sich näher.
Dennoch stößt er sie wiederholt von sich. Und das hat einen guten Grund, selbst wenn wir sein Geheimnis in diesem Band noch nicht erfahren, was mich definitiv zum Weiterlesen animiert hatte (und nicht bereuen ließ). Ein unnützer Trunkenbold, zum Scheitern verurteilt, nichts weiter als ein kleiner, glühender Aschehaufen, wie Sydney Carton sowie Will sich selbst sieht, ist er nicht. Deshalb ist es gleichwohl beim 6. Mal faszinierend und berührend, zu sehen wie Will nahezu alle in seiner Umgebung verletzt, während man dann die Vorzeichen zu deuten, seine Beweggründe zu erahnen versucht. Dadurch wird klar gezeigt, dass jede Handlung, jedes Wort seinen Grund besitzt, wodurch dem voreiligen Beurteilen anderer Menschen ein Riegel vorgeschoben werden soll. In der Hinsicht ist es auch fesselnd, die Geschichte der jeweiligen Personen aus der Dritten-Person-Erzählperspektive mitzuerleben, da wir dadurch Gründe und Gefühlslagen kennen, welche den anderen Protagonisten fremd sind, parallel dazu jedoch mitverfolgen, wie das verstellte Verhalten auf andere wirkt.
Ist diese Konstellation nicht schon hinreichend kompliziert genug, steht im Klapptext etwas davon, dass Tessa ihr Herz davor schützen muss, sich nicht in einen weiteren Jungen zu verlieben: Den absolut gütigen, nachsichtigen und liebenswerten Jem, der ebenfalls sein Päckchen zu tragen hat und Wills Parabatai ist (!). Ganz abgesehen davon, dass die Kurzbeschreibung unwiderstehlich geschrieben ist (für Fantasy- und Liebesroman-Fans), wird dieser Teil nur leicht spürbar angedeutet, wie eine auf der Haut liegende Feder. Der Band besitzt eher einen vorbereitenden Charakter für das kommende Liebes-Martyrium, wenn man es so nennen möchte. Dabei verkörpert Jem all das, was gut und selbstlos auf dieser Erde ist, weshalb man auch ihn leicht und innig ins Herz schließen kann, wie allgemein die im Institut lebenden Protagonisten (abgesehen von Jessamin, wie der eine oder andere mit Bestimmtheit einwerfen wird, da sie ein oberflächliches, sauertöpfisches Frauenzimmer ist). Ein Highlight stellt für mich auch die erneute Begegnung mit Magnus dar, welcher in dieser Reihe gefühlt präsenter ist, als in der anderen Chronik. Sein magischer Witz, seine sprühende Jugend, gepaart mit Weisheit, Gefühl, Loyalität, Schmerz und ein wenig Entrücktheit sind mitunter der Grund, warum er zu meinen Lieblingsprotagonisten zählt.
Abgesehen von den wundervollen Charakteren bietet der Band ebenso im historischen Kontext die nötige Harmonie: Badezuber, offene Kamine, Kutschen, Mieder, Bälle, Drogenhöhlen; Frauen, die um ihre Gleichberechtigung kämpfen müssen (was Charlotte als Leiterin des Londoner Instituts jedes Mal aufs Neue tut), eingebürgerte moralisch veraltete Verhaltensweisen etc. Allerdings spielt der Glaube keine (elementare) Rolle in Tessas Leben, was wirklich sehr angenehm war. Die Kombination von Historie- und Fantasieromanen ist an sich stets sehr faszinierend, da man auch ein wenig aus der Vergangenheit lernt, während man willentlich eher dazu geneigt ist, zu sagen, dass es so hätte passiert sein können. Und dieser viktorianische, alte, charismatische Flair stellt auch einen nicht unerheblichen Teil des Zaubers dieses Buches dar, romantisiert das Geschehen, die Atmosphäre.
Und dann steht natürlich auch die Handlung an sich im Vordergrund, die fantasievolle Welt der Schattenjäger und -weltler, alte Konflikte, Bündnisse, Abkommen, Kämpfe, Aufträge, Spionage, Schattenjäger-Geschichte, Misstrauen, das Bündnis, Tessas Fähigkeiten, Freundschaft, Geheimnisse und Verrat. An sich ist die Liebesgeschichte in all diese Geschehen eingebettet, tritt nicht exzessiv zu Tage, wodurch sich „Clockwork Angel“ rasant schnell durchlesen lässt. Man fiebert mit, hält den Atem an und lässt sich in die Verstrickung der vielen verschiedenen Geschichten, Intentionen und Geheimnisse eintauchen. Und bei all dem ist die Wahrheit schwerer zu finden, als sie zunächst annehmen, was zeigt, dass nichts jemals einfach ist.
Kurzum: Der Band handelt vor allem von verborgenen Gefühlen, Beweggründen und Geheimnissen, dennoch ist die Handlung von ihrem Tempo angemessen angezogen, stets fantasievoll und großzügig ausgeschmückt. Der Schreibstil Mrs Clare‘s ist grandios, plakativ und mitreißend, ein wahrer Genuss der Sinne. Im Laufe der Ereignisse sieht man die Protagonisten wachsen, sich weiterentwickeln und einem ans Herz wachsen. Persönlich konnte ich mich in ihnen ein Stück weit wiedererkennen. Hier handelt es sich buchstäblich um eine Gefühlsachterbahn mit vielschichtigen Komponenten: Leidenschaft, Hingabe, Verlust, Sehnsucht, Schmerz, Humor, Misstrauen, Ab- und Zuneigung, Verständnis. Die Geschehnissen warten mit markanten, überraschenden Wendungen auf und fesselt, ebenso wie die unwirkliche, düstere, nervenaufreibende Atmosphäre. Und zu guter (Vor)Letzt: Ihr solltet auf keinen Fall Wills grausige Gedichte sowie seine Begeisterung für Dämonenpocken verpassen (das wird nämlich noch recht interessant)!
Es sollte auch gesagt sein, dass man seine Meinung zu Büchern (meist positiv) ändert, je öfter man sie liest, weshalb es dem ein oder anderen vielleicht nicht auf Anhieb gefällt, doch wenn man sich erst intensiver mit diesem Goldschatz auseinander gesetzt hat, kann man es sehr achten und ehren lernen. Mir bedeutet das Werk sehr viel, weshalb ich wohlgemut erneut nach ihm greifen und es weiterempfehlen kann.