Wer bin ich und wenn ja, wie viele? - Richard David Precht

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? - Richard David Precht

Auf dem schulinternen Lehrplan der zehnten Klasse steht groß „Einstieg in die Philosophie“ geschrieben – Für manche ein Grund, vor Wonne zu seufzen und zu jauchzen, für andere hingegen der Anlass dafür, das Kopfkissen mit in den Unterricht zu bringen. Umso entscheidender ist es, die Schüler scharfsinnig und mit viel Kompetenz an diese komplexen Themen und Theorien heranzuführen.

So begann unsere Lehrerin, ein dreiviertel Jahr zuvor, eine Passage aus einem kleinen blauen Buch vorzulesen. Den Titel konnte ich nicht erkennen, doch die Zeilen handelten von einem 20-jährigen Mann, der aufgrund einer unerwartete Urlaubsbegegnung, Stunden leidenschaftlicher Debatten über Sokrates im Gespräch und des anschließenden Zivildienstes beschließt, Philosophie zu studieren. Er erzählt von seiner Begeisterung für die charakterstarken Persönlichkeiten wie Sartre oder Bloch, von Hoffnungen, Enttäuschungen, Erfahrungen und vor allem, weshalb ihn Philosophie nicht los lässt: Es ist ein Fach, welches nie zu Ende studiert wird, man lernt nie aus. Auch das fächerübergreifende, systematische Arbeiten begeisterte ihn endlos, doch es gab keine Werke, die einen Schrittweise in diese Vernetzung aller Bereiche einführt und auch für Außenstehende Interesse weckt.

Eben jenes dreiviertel Jahr später sitze ich nun hier, noch immer überrascht, wie zufällig und nichts ahnend ich erneut auf dieses Buch gestoßen bin, welches unsere philosophische Einführung war. Sartre, Nietzsche, Schopenhauer, Kant, Bentham, Mill und Russel sollten nun keine Fremden mehr für mich sein, ebenso wenig für euch, wenn ihr dieses Buch lesen solltet. Es stellt den perfekten Einstieg für Jugendliche dar, für welche Gruppe er es auch ursprünglich schrieb. Seine Stiefkinder konnten sich nicht recht vorstellen, worin Herr Precht täglich seine Zeit investierte, weshalb er eines Abends im Restaurant anfing, auf eine Tischdecke zu malen und begann, ihnen Philosophie zu erklären. Das sollte die anderen Altersklassen jedoch nicht davon abhalten, zu diesem Buch zu greifen.

Per Zufall schaute ich mir ein Interview bei Sternstunde des SRF Kultur an, dann noch eins und am Ende durchsuchte ich immer mehr Medienplattformen (YouTube, ZDF-Mediathek, …), voller Begeisterung und Bewunderung. Herr Precht zählt zu einem der intelligentesten Menschen unseres Landes, wobei er sein Wissen gekonnte übermittelt, wie ein richtiger Professor es auch tun sollte. Er ist ein sympathischer Mensch und ein toller Philosoph, der über eine breitgefächerte Bildung verfügt, die in dem Buch auch zum Tragen kommt. Nicht umsonst wurde er mit diesem Band berühmt, obwohl seine vorherigen Werke auch schon diskutiert worden.

Hier stellt er die Fragen nach dem Warum und wie alles zusammenhängt. Er zeigt die fundamentale Bedeutung des Nachhakens und Nachsinnens und beweist einem, wie viel Freude das Nachdenken bereiten kann. Er hofft, den Genuss am Lernen im Leser zu wecken, und wird in diesem Wunsch großflächig nicht enttäuscht. Indes ist er nicht nur ein geistreicher Philosoph, sondern auch ein grandioser Schriftsteller, ein eloquenter Sprecher und ebenso angenehm lässt sich das Buch lesen. Sein Einfallsreichtum gepaart mit seiner Kreativität geben dem Buch noch einmal eine intensivere Note (obwohl ihn Kritiker eben jene anti-akademische Art zum Vorwurf machen, der Schreibstil vieler anderer Philosophen ist als Einstieg allerdings wirklich unkulinarisch). Zudem sind seine Vergleiche und Metaphern aussagekräftig und oftmals treffend, er wählte gekonnt Beispiele, Philosophen, Gedankenexperimente, Studien und Geschichten aus, die seine Postion entweder untermauerten, eine Grundlage für diese boten oder ein kontrastierendes Beispiel darstellten. Und dabei greift er in verschiedene Wissenschaften und Lebensbereiche. In einem Interview meinte er einmal, dass ein Philosoph sozusagen über allen Wissenschaften steht, weil er sich aus allen etwas herausnimmt und Zusammenhänge herstellt, durch welche er Problematiken, Situationen, Gedanken analysiert, bewertet und falsifiziert. Auf seiner philosophischen Reise befasste er sich primär mit der Neurowissenschaft und der Psychologie, unter deren Gesichtspunkt sowie unter den Leitfragen Kants "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und Was darf ich hoffen?" er verschiedene Themen beleuchtet. Allerdings bewegt er sich bezüglich der Leitfragen in einem ziemlich offenen Feld, vor allem was den letzten Abschnitt anbelangt. Die Themen gehören in weiter Entfernung diesen Hauptfragen an, beziehen sich aber nur bedingt auf diese. Vielleicht stellte er seine Forschungen lediglich deshalb unter diese Gesichtspunkte, weil er in seinen Auswertungen häufig Kants Philosophie einbezog, zeigt, wie dieser Situationen und Gedanken bewertete.

Im ersten Teil geht er zunächst von Nietzsches Lehre aus: Nicht die vom Übermenschen, sondern der, dass der Mensch nichts weiter als ein kluges Tier sei, in seiner Erkenntnis und Wahrnehmung eingeschränkt. Nicht viel unterschied uns von den Menschenaffen, welche noch eine wichtige Rolle im Buch spielen werden. Doch ein Faktor, ein Umstand in unserer stammesgeschichtlichen Evolution verlief anders. So schlug er wieder eine Brücke zu Nietzsche, der sich fragte, was er wissen können, was zur kognitiven Wende führte und die Frage nach den Grundlagen unseres Erkennens populär machte. Heutzutage lässt sich dies einerseits leichter und andererseits schwieriger beantworten: Durch unser Gehirn, das komplexeste System unseres Universums. Die Krux ist jedoch, dass der Denkend das eigene Denken verstehen versucht und die Antwort, ob wir dazu eigentlich in der Lage sind, offen bleibt. Deshalb ist Herr Precht der Überzeugung, dass Philosophie nie von den Neurowissenschaften abgelöst wird. Er zeigt die Begrenztheit unserer Wahrnehmung und somit u.a. die unseres Gehirns auf.

Außerdem besteht er darauf, dass nicht nur der Verstand uns ausmacht, sondern auch unsere Gefühle, unser Körper, was Jahrhunderte lang von vielen Philosophen vernachlässigt wurde. All die ungreifbaren Eigenschaften, unser freier (oder wie, mancher sagen würde, unfreier) Wille, das Bewusstsein und Unterbewusstsein, all die feinen Komponenten, die uns zu dem machen, wer wir sind, können von der Hirnforschern nicht wirklich erklärt werden. Deshalb setzt er sich auch mit den Lehren verschiedener einflussreicher Philosophen unter dem Gesichtspunkt der heutigen Naturwissenschaften auseinander.

Vom Gehirn geht es weiter zu den Ansichten der Neurologen und Psychologen, was unser "Ich" anbelangt, wie viele das sind und ob man eigentlich so von sich selbst sprechen kann. Feinfühlig und gut verständlich werden wir in dieses komplexe Thema eingeführt. Sein Aufbau ist logisch strukturiert, er zieht aus seinen Kapiteln Schlüsse, auf welche die folgenden aufbauen. Die Verknüpfungen der Gesichtspunkte sind gewählt ausgesucht worden und die Argumentation präzise ausgeführt. Dadurch schafft er es auch, ein weites Feld an Hypothesen zu erschaffen, die zu beweisen gelten. Und das tut er zu großen Teilen. So führt er einen an sich selbst heran und verrückt ein wenig die Selbstwahrnehmung, da er mit seinen Analysen des menschlichen "Ich"'s in die Untiefen der psychologischen Weite greift.

Dadurch, dass er jedoch so viele verschiedene Themen und Gedankenansätze gewählt hat, schrieb er durchschnittlich nicht übermäßig viele Seiten pro Kapitel (10-15), was bedeutet, dass diese geradezu danach schreien, erweitert und vertieft zu werden. Ohne Frage behandelt Herr Precht die vielen verschiedenen Schwerpunkte vertiefend und um einige Ecken denkend, aber nicht ozeantief, was verständlich ist, da das Buch ansonsten mindestens doppelt so dick wäre und seine vorrangige Zielgruppe womöglich nicht mehr folgen könnte. Allerdings wäre es ziemlich interessant gewesen, welche Stellung er zu den Meinungen und Aussagen bezogen hätte, bei denen er äußerte, dass sich über diese streiten ließe.

Nichtsdestotrotz verhilft seine vernünftige Argumentation dazu, sich eigenständig eine Meinung zu bilden. Hinter nahezu jedem seiner Sätze Satz steckt das Potenzial vieler weiterer Gedanken. Das Ausmaß wird allerdings durch inhaltliche Zusammenhänge und die Zusammenfassungen am Ende vieler Kapitel etwas relativiert. Dennoch musste ich das Buch oft aus der Hand legen, weil es viele Impulse liefert und Neuronen stimuliert. Dabei kamen mir nicht immer Gedanken zum unmittelbaren Thema, sondern führte dazu, andere Sachverhalte mit neuem Blick zu sehen. Und dafür sind gute Bücher da: Um uns zum Nachdenken anzuregen. Indem Philosophen ihre reiflichen (oder auch unausgegorenen) Überlegungen publizieren, beeinflussen sie Menschen damit in ihrem denken, wobei manche Aussagen sowohl moralisch als auch inhaltlich gehaltvoller als andere sind. Und seine sind, wie viele der Leser sagen würden, schlagfertig, intelligent, aber auch konziliant, weshalb es wirklich Freude bereitet, seinen Ausführungen zu folgen.

Im zweiten Teil beschäftigt er sich mit moralischen Wertvorstellungen, den Maßstäben und wonach wir unser Verhalten bewerten. Außerdem zeigt er Interesse am sozialen Verhalten und daran, ob der Mensch Grund auf gut oder schlecht ist. Er führt weiterhin Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen auf, auch das Trolley-Problem, zu welchem er bereits ein Interview gab. Weiterhin beschäftigte er sich mit Klonen, Umweltschutz, mit der Sterbehilfe, Abtreibung und den Grenzen der Neurowissenschaften. - Also all die Themen, die uns in der heutigen Zeit sehr beschäftigen. Und an alle geht er äußerst kontrovers an, zeigt Kritikern, dass er auch ihre Zweifel und Einwürfe zur Kenntnis genommen und nicht abgefertigt hat. Er nimmt sich der Beantwortung seiner Fragen auf eine elegante und kompetente Weise an, mit einem Ernst, der beeindruckt, und einer Leidenschaft, die mitreißt.

Indes trifft er keine starren Anweisungen und Aussagen oder desgleichen, weil er um die Komplexität der Themen und die subjektive Wahrheiten und Realitäten der Menschen Bescheid weiß. Er zeichnet den Lesern durch viel Wissen und verschiedene Informationen (14 Seiten Anhang) ein Bild, auf welches seine Hypothesen und Ideen aufbauen, die u.a. auch dazu führen sollen, dass Menschen miteinander in Kontakt treten und sich darüber austauschen. Der Leser besitzt schließlich eine unterschiedliche Wahrnehmung, andere Erfahrungen und nicht die selbe unterbewusste Empfindung, weshalb er viele Gedanken dort mit hinein tragen kann. Und es gibt einige Ausbaumöglichkeiten, Punkte, die noch kritischer zu hinterfragen sind, wie es in jedem Werk der Fall ist, aber auch sehr viele kluge Ausführungen und Gedanken. Zudem ist eine philosophische Abhandlung niemals dazu da, ein Allgemeinurteil, eine -lösung zu geben. Niemand kann jemals die gesamte Bandbreite abdecken, sondern "nur" sein Möglichstes tun, um diese mit weiteren, eigenen Ideen anzureichern. Dies vollbrachte er auch definitiv.

Im letzten Teil angelangt, regen auch diese Kapitelüberschriften sehr dazu an, das Buch in die Hand zu nehmen und weiter zu lesen, was mit neuen (Er)Kenntnissen bezüglich der Thematiken Gott, Eigentum, Sein, Glück, Sinn und Liebe belohnt wird. Mancher dieser Äußerungen wäre für den ein oder anderen mäßig verkraftbar und nicht vertretbar, vor allem was den Sinn des Lebens anbelangt, ich empfand sie hingegen als sehr erfrischend und ehrlich. 

Es ist kein Wunder, dass sich dieses Buch so lange auf Platz 1 der Bestsellerliste gehalten hat: Der Band ist nicht nur klasse geschrieben, sondern er spricht mit diesem auch Laien an. Den letzten Punkt berücksichtigen die meisten Philosophen und manch ein Intellektueller nicht (obwohl erster auch gerne außer acht gelassen wird). Philosophie interessierte viel mehr Menschen und würde auch mehr von ihnen erreichen, wenn sie in dieser Art und Weise geschrieben wären. Es trägt keinen unbedeutenden Teil dazu bei, die Lust am fächerübergreifenden Lernen zu steigern, sich mit diesen wichtigen Themen auseinanderzusetzen und die Komplexität hinter diesen anfangen zu begreifen. Absolut empfehlenswert, herrlich geschrieben und gut durchdacht, dankesehr dafür.

 

Und wenn sich jemand gerne über eines der Thesen unterhalten bzw. seine Meinung kundtun möchte, kann er das gerne in den Kommentaren tun.

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