Was uns erinnern lässt – Kati Neumann
Milla sucht verlorene Plätze auf, nachdem sie sich selbst so verlassen fühlte, da erst ihre Eltern, später der Vater ihres Kindes sie verließ. Deshalb lassen diese magischen Orte sie nicht mehr los. Aus dem Gedanken, dass alles vergänglich ist, obwohl es für die Ewigkeit errichtet worden war, zieht sie ihren Trost. Doch die überwuchernden Massen an Touristen lassen sie nach einem eigenen stillen und unangetasteten Ort sehnen, der ihre Gefühle widerspiegelt. Stattdessen findet sie eine Heimat.
Sicher wisst ihr auch, ob aus eurer Schulzeit, eigenen Erfahrungen oder anderen Quellen, dass Deutschland nach dem 2 Weltkrieg in mehrere Besatzungszonen aufgeteilt war, die das Land letztendlich in Westen und Osten teilten. Und genau dazwischen verlief eine 5 km breite Sperrzone. Dieser Umstand war mir neu, weshalb die Frage, was mit den dort Angesiedelten Familien geschah, nie in den Sinn kam. Wirklich aufbereitete wurde das Thema nie, obwohl es ein Teil unserer Geschichte ist.
Als persönliche Herzensangelegenheit nahm sich die Autorin jedoch dieses Themas an, nachdem sie lange Zeit aus Angst dazu schwieg, ein solch emotionales Thema zu wählen, da ihre Großeltern selbst in dieser sogenannten „Schutzzone“ lebten und sie einige schöne Tage ihrer Kindheit dort verbrachte. Die Detailverliebtheit und die ganzen Kenntnisse bezüglich des Thüringer Wald zeigen ihre eigene enge Verbundenheit mit diesem Flecken Erde, ihrer Heimat. Wie kritisch das Ausmaß ihrer Besuche und der dortigen Regelungen war, wurde ihr jedoch erst bei der Recherche bewusst. Sie forschte immer weiter, durchstöberte alte Archive, konsultierte Historiker und befragte Zeitzeugen, wodurch sie uns als Endresultat ihr Buch präsentieren kann, welches aufwühlt und schockiert. Als studierte Museologin half ihr dabei, stets noch einmal nachzuhaken, verschiedene Quellen aufzusuchen. Außerdem ist das Buch berührend, regt zum Nachdenken an und zeigt deutlich, wie tief die Wunden der Menschen durch die Zwangsumsiedlung und das verlassen ihrer Heimat nach noch Jahren sind. Deshalb zunächst ein wenig zum Inhalt.
Die Geschichte spielt im Thüringer Wald, einem fiktiven Abschnitt namens Dressels Forest, auf dessen Lichtung das mondäne Hotel Waldeshöh steht, welches von der Familie Dressel erbaut und voller Liebe geführt wurde. Durch wiederkehrende Rückblicke, die uns das Schicksal der Familie und des Hotels vergegenwärtigen, wird uns ein detailliertes und realitätsgetreues Bild der Zeit nach dem Ende des 2. Weltkrieges erschaffen, obwohl ihr Leben in den Bergen und vor allem nach dem Schließen des Hotels sehr abgeschirmt war. Wir werden durch eine von Schmuggel, Hunger, Enteignung, Warenmangel, Kontrolle und Passierscheine geprägte Zeit geführt, mit ihren demoralisierten, traumatisierten, schweigsamen Männern und hart arbeitenden Frauen. Johanna und Aron Dressel stellten in dieser Hinsicht ein perfektes Beispiel dar. Und in allem, was sie auf sich nehmen mussten, waren sie unfassbar duldsam. Vor allem ihr Optimismus und ihre Nachsicht lassen einen sich richtig Willkommen fühlen. Obschon oder gerade wegen dieser entbehrungsreichen Zeit schöpfen sie langsam wieder Hoffnung, die durch die wachsende Zahl an Familienangehörigen gemehrt wird.
Auf der anderen Seite sind es zunächst Milla und ihr Sohn Noa, die uns in ihre traute Welt entführen. Vor allem Noa steht im Kontrast zu den Kapiteln der Jahrzehnte zuvor, ist rebellisch, gewitzt, sozial engagiert und mildtätig, lässt sich nichts vorschreiben, womit die Autorin wohl aussagen möchte, dass es an uns liegt, die Zukunft zu gestalten. Milla hingegen verkörperte noch immer diese heimelige, unsichere und gutmütige Person, die wir gewisser Weise und Johanna sehen. Zumindest bis zu jenem Moment, da sie unter Gestrüpp, Kraut und Stein mitten auf einer zugewachsenen Lichtung auf einen Keller stößt, der all die Jahre über konserviert worden zu sein schien. Und er ließ sie nicht mehr los, veranlasste sie, die Enkel Johannas und Arons aufzusuchen, ihnen ihre Stimme zu leihen, um Gerechtigkeit einzufordern, und dabei unverhofft die ihre zu finden. Sie begibt sich auf die Suche nach dem ominösen Danach und findet die Antwort, auf welche die Dressels nicht mehr zu hoffen gewagt hatten. (Wer über die Familie den Überblick anfangs nicht verlieren möchte, kann in den Innenband des Bandes schauen, da dort der Stammbaum verzeichnet ist.)
In erster Linie findet sie jedoch in Christine eine Freundin, in den Dressels eine Familie und endlich das Empfinden, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Erinnern muss nicht immer schmerzhaft sein, nicht immer alleine geschultert werden, und die beiden lernen, wie man diese Bürde gemeinsam trägt, wie befreiend es ist, sich jemanden nach all der Zeit mitzuteilen. Beide beginnen Mut zu schöpfen.
All das schreibt sie in recht einfacher, schlichter Art, aber genau richtig, um für den Leser langsames Verständnis aufzubauen, damit er die Intensität und Bedeutung des Geschriebenen erfasst. Auch schwingt leise Kritik in vielen Zeilen mit, Unglaube und Protest, welcher, je länger die Worte und Szenen in einem widerhallen, immer lauter wird. Und je länger das Buch andauert, desto weiter Schrauben sich die Töne in die Höhe. Dabei klagt sie diese Taten meistens nicht einmal direkt an, sondern lässt die Szenen für sich sprechen. Sie zeichnet uns mit dem Buch einen anderen Teil der DDR, mit unzähligen Stasiakten, Observation , Schikane, Misstrauen, Schuld und Einschränkungen.
Das ist ein sehr schwieriges Thema, die Fragen, wie sehr die betroffenen Menschen selbst an diesem Ausmaß zu kämpfen hatten, warum die Maßnahmen so hart waren und was hinter dem Ganzen steckt, kann ich als Laie nicht beantworten. Dennoch ist es sehr interessant, etwas darüber erfahren zu haben, und für weitere Recherchen sind keine Grenzen gesetzt, zumindest, was niedergeschriebene Informationen anbelangt. Ein faszinierendes Thema.
Für alle Historie begeisterten Menschen sehr empfehlenswert, aber auch für jede Schnuppernase zwischendurch, weil das Buch gefühlvoll und von der Natur, der Freundschaft geprägt ist sowie nachhaltig im Kopf verankert bleibt, die Weltsicht etwas erweitert.