Ein wenig Leben - Hanya Yanagihara

Nichts für schwache Gemüter, Egozentriker oder diejenigen, welche glücklich werden wollen

Es gibt Bücher, die man unbedingt für sich behalten will, nur unter Mordandrohungen mit jemandem teilen würde, weil sie tief in einem etwas zum Klingen bringen, und dann gibt es solche, von denen man denkt, man könne mit ihnen die Welt missionieren, diese zu einem besseren Ort machen. Anfangs gehörte dieses Buch für mich zu der ersten Kategorie, noch immer würde ich es am liebsten in mein Herz einschließen und für mich behalten, angesichts der einschlagenden Wucht und Reichweite jedoch ein unmögliches Unterfangen. So zählt es nun zur letzteren.

Obwohl es zum Teil so harte Kritik hagelt, gehört es für mich zu den absoluten Highlights 2018 (denn erst in diesem Jahr erreichte uns das Buch endlich in Deutschland, wobei es bereits 2016 in den USA erschien). Es wurde auch nicht umsonst als eines der besten Büchern der Welt gewertet, schließlich ist den Lesern schon lange kein Roman mehr untergekommen, der dermaßen nervenaufreibend, frustrierend, ehrlich und herzzerreißend zugleich war. Sicherlich könnte man meinen, die Schlucht zwischen Gut und Böse sei so groß, dass es unglaubwürdig und übertrieben anmutet, der Hauptprotagonist als Heiliger dargestellt sei, welcher ein ebenso tragisches Ende nimmt wie sein Namensvetter. Einige Menschen sind der Ansicht, er suhle sich im Mitleid, seinem eigenen sowie dem anderer, obwohl er doch alles daran setzt, seiner Vergangenheit zu entfliehen, sich ein Leben aufzubauen, dass nicht vom Geist des Vergangenen heimgesucht wird. Doch bevor ich zu stark an die Substanz gehe, möchte ich euch erst einmal eine kleine Einführung geben und die Protagonisten näherbringen. Und wenn ihr noch immer nicht wisst, um welchen Roman es sich handelt: Die Rede ist selbstverständlich von dem Werk Hanya Yanagihara's, der US-amerikanischen Autorin der Stunde (und wohl der nächsten Jahrzehnte und -hunderte).

Ihr Werk besitzt zu viel von allem, zu viele Charakter, Jahrzehnte, individuelle Ausprägungen und Geheimnisse, sodass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Doch genau darum geht es. Denn das Buch erzählt vor allem von Sprachlosigkeit, umschreibt Situationen auf unvergleichliche Weise, erzählt unglaublich manigfaltige Geschichten. Die Hauptgeschichte bewegt sich dabei primär immer um Jude herum, vorsichtig und distanziert, bis sie einen urplötzlich überrollt. Und dann reißt sie einen in ihrem Sog mit, lässt einen nicht los. Aber Fakt ist, dass allein der Titel "Ein wenig Leben" so voller Ironie steckt, dass man selbst ganz sprachlos wird, steckt in den 957 Seiten mehr Individualität, Gefühl und Charakterstärke, als manch einer in seinem gesamten Leben zusammen bekommt.

Nun beginne ich wohl am Besten an der Stelle, wo wir das erste Mal den vier Freunden ansichtig werden: In einem kleinen Restaurant Chinatowns, im Süden Manhattans. Schon in diesem Moment offenbart sich einem das enge Band ihrer Freundschaft, ihr gegenseitiges Verständnis, welches keiner Worte bedarf. Eine Hymne auf die fesselnde Verbundenheit einer Gemeinschaft, in der jeder seiner Individualität nach verstanden, jedermanns Schweigen respektiert wird. Denn die vier Freunde Jude San Francis, Willem Ragnarsson, Malcolm Irvine und Jean Baptist (kurz: JB) Marion besitzen eine Freundschaft, die von allen Seiten beneidet und bewundert wird. Wer verspürt schließlich nicht den Wunsch, Menschen zu haben, mit denen man sich lediglich durch Gestik und Mimik verständigen kann, sei es, um auf einer Party von einem unliebsamen Gesprächspartner erlöst zu werden oder in Zeiten des Schmerzes jemanden zu haben, der schon an den kleinsten Regung erkennt, in welcher Verfassung man ist. Gibt es ein größeres Geschenk auf Erden, als Freunde zu haben, deren Wohl einem wichtiger als das eigene ist? Die immer auf dich achtgeben? Noch immer schwebt das Bild Willems vor meinen inneren Augen, der sich mitten während des Gehens umdreht, um Jude seine Schnürsenkel zu schließen. Und das war eine alltägliche, beinahe schon unbewusste Geste. Die Jahre auf dem College und ein Zimmer, welches gefühlt nicht größer als eine Walnuss ist, hat die vier fest aneinander geschweißt.

Und so lernt man Willem, Malcom und JB besser kennen, weiß um ihre Stärken und Schwächen, Eigenheiten und Träume, Vergangenheit und familiäre Situation Bescheid. Man lernt JB‘s ihm treu ergebene Familie kennen, die ebenso fest daran glaubt, dass er eines Tages ein bedeutender Künstler wird, wie er selbst es auch tut. Diese Selbstsicherheit geht dem angehenden Architekten Malcolm völlig ab, der stets die Befürchtung hegt, nicht gut, nicht kreativ genug zu sein. Diese werden von seinem Vater stets geschürt. Auch Willem strahlt eine schüchterne Liebenswürdigkeit aus, ist sehr unsicher und weiß nicht, ob er jemals ein begnadeter Schauspieler werden wird, wobei er jedem in seiner Umgebung sofort sympathisch erscheint. Und dennoch sollten sie alle vier die Besten ihres Gebietes werden. Und dann ist da Jude, der sich geschworen hat, nie wieder wehrlos zu sein, der sich lange Zeit so nah wie möglich an den Hintertüren positionierte, um notfalls schnell die Flucht ergreifen zu können, der aufgrund dessen eine Kariere als Anwalt anstrebt. Jude, von dem man mehrere hundert Seiten lang nicht mehr erfährt, als dass er aus einem Kloster stammt und einen schweren Autounfall hatte, der ihm nachhaltige Schäden zufügt. Ein Postmann durch und durch.

Immer weiter wird man in das Geschehen hineingezogen. Da ist dieser rote Faden, der sich durch die Geschichte windet. Es war von Anfang an Jude, dessen Geschichte einem am meisten gefangen genommen hat. War es zuvor der Tatsache geschuldet, dass ein Mantel des Geheimnisvollen ihn umgibt, wird man im Laufe der Geschichte immer weiter in seine dunklen Tiefen gezogen. Stück für Stück offenbart die Autorin uns Jude‘s Leidensweg, der sich einem zum ersten Mal in aller Deutlichkeit zeigt, als Willem mitten in der Nacht zusammen mit Jude zum Arzt fahren muss, weil dieser zu tief in seine Pulsadern schnitt. Die Ereignisse sind wie ein Strudel, ein unbändiger Sog, der einen in seine qualvollen Abgründe entführt. So wenig Jude aus ihm entkommen kann, misslingt es auch einem selbst. Nur dass er sein Leben lang damit zu kämpfen hatte, wir nicht.

Die Wellen an Informationen schwappen über einen hinweg, zerren an uns und reißen einen mit sich. Man sensibilisiert, kann keinen weiteren Schmerz mehr ertragen, will dem nahenden Zusammenbruch, noch mehr Leid entgehen. Aber das Buch macht süchtig. Es scheint unmöglich, seine Augen von den gedruckten Worten zu wenden, die nicht aus Tinte bestehen zu scheinen, sondern aus Blut und Tränen. Die ganzen Seiten scheinen davon durchtränkt zu sein. Und so sehr du die Qualen beenden möchtest, zieht es einen immer wieder zu dem Ursprung dieser zurück. Ebenso wie Jude, dessen Arm einer Hügellandschaft, einer eigenen, fleichlichen Rüstung gegen die Grauen der Welt und der inneren Dämonen gleicht. Am Ende steht der Schmerzensmann entblößt vor einem da. Ein Mann, dem seine gesamte Kindheit über Gewalt gedroht hat, dem stets zu verstehen gegeben worden war, dass er eine Plage sei. Ein Mann, der als Kind nicht nur einmal, sondern unzählige Male sexuell missbraucht und zur Prostitution gezwungen worden ist. Und zuletzt nicht seine körperliche Behinderung, die ihm im Laufe des Buches immer mehr zu schaffen macht.

Nur seinen Arzt Andy, der mehr Freund denn ärztliche Hilfskraft ist, obwohl es ihm an Tätigkeit und Übung bei Jude absolut nicht mangelt, lässt er in dieser Weise an sich heran, zeigt ihm seine Schmerzen, da er auf ihn angewiesen ist, weiß, von ihm nicht mit Mitleid überhäuft zu werden. Aber nicht nur er ist eine fundamentale Stütze für ihn, sondern auch sein ehemaliger Universitätsprofessor Harold, der sich Jude's später annimmt, sowie Willem, der sein bester Freund und späterer Geliebte sein wird. Drei Jahrzehnte lang begleiten wir die Freunde, erleben Hoch‘s und Tief‘s, sehen, wie sie sich ein Leben aufbauen, ihre eigenen Wege gehen, die sich nicht mehr so häufig kreuzen, wie zu ihrer Jugendzeit. Langsam werden wir in das Leben der erfolgreichen New Yorker eingeführt. Es zeigt sich uns die taufunkelnde, makellose und glatte Fassade der schönen und reichen Welt: Theaterbesuche, Dinner, Partys, Veranstaltungen, Ausstellungen. Und doch zerfällt der Schein augenblicklich, zerbricht in tausend Scherben, lässt man sich in den Bann der Geschichte reißen und lauscht deren Gedankenfülle und -tiefe. Dafür, dass Hanya Yanaghihara nicht davor scheut, derartig brisante Themen (wie auch Drogensucht) in all ihrer Hässlichkeit darzustellen, verdient sie meinen Respekt.

Die Ereignisse bilden ein Auf und Ab, wie eine Achterbahnfahrt, bei der man auch in Zeiten der Ruhe weiß, dass es irgendwann wieder rasant bergab gehen wird, bis man am Ende angelangt ist. Deshalb hatte ich auch überhaupt nichts dagegen einzuwenden, als Passagen kamen, die etwas ruhiger waren, wusste ich doch, dass dies nicht lange währen würde. Dadurch bietet es einem außerdem eine gute Gelegenheit, die Tränen zu trocknen, Kraft zu sammeln und sich auf das Kommende vorzubereiten. Zudem hat es etwas absolut befreiendes, sich in das Leben eines anderen fallen lassen zu können, Alltagssituationen mitzuerleben, welche manchmal den eigenen nicht ganz unähnlichen sind. Und dadurch kann man ihnen eine Bedeutung beimessen, die sich einem selbst in dieser Form nicht offenbart hätte. Worte geben alltäglichen Begebenheiten eine Tiefe, die zuvor nicht greifbar gewesen war. Und dies ist eines dieser Bücher, welches dein gesamtes Denken auf den Kopf stellt, dich Sachen hinterfragen, Verhaltensweisen analysieren lässt und dir zeigt, wie wertvoll und zugleich grausam das Leben sein kann.

Im Laufe des Buches ist in mir oft die Frage aufgekommen, ob es nicht besser wäre, Jude gehen zu lassen, ihm weitere Agonie zu ersparen, da er sich unaufhörlich Schlachten mit seiner Vergangenheit liefert, die er jedes Mal aufs neue zu verlieren droht. Dabei galt es die ganze Zeit herauszufinden, wann die Vergangenheit endet und das Hier und Jetzt anfängt. Die Antwort ist, dass beides in einem steten Strom ineinander fließt. Die Vergangenheit ist nicht als separat zu betrachtendes Kapitel anzusehen, sondern etwas, dass uns formt und zu dem macht, was wir sind, weshalb sie wohl niemals enden wird. Und wer nimmt sich da das Recht, so anmaßend sein zu dürfen, darüber zu entscheiden, wie intensiv ein Menschen fühlen darf, wann es nicht mehr angemessen, sondern übertriebene ist, von der eigenen Lebensgeschichte eingeholt zu werden? Warum glauben manche Leser, alles besser zu wissen, andere für ihre Gefühle verachten zu dürfen. Woher soll die Einzelperson verstehen, ohne das Wissen um sexuellen Missbrauch am eigenen Leib, wie man sein Leben danach weiter bestreitet, wie mental zerstört man nach dieser Zeit ist? Sie besitzen weder seine Erfahrungen, noch Eindrücke noch Gedanken. Vielleicht ist er auch einfach nur um Welten schlauer als manch einer von uns, besitzt mehr Tiefgründigkeit, sieht mehr in den kleinen Momenten des Alltags als das gemeine Volk. Wie man sieht, kann ich deren Kritikpunkt nicht teilen. Natürlich ist dies kein Standart-Modell der Psychologie, auch meinte die Autorin in einem Interview, alles lauter aufgedreht zu haben, die Emotionen, die Gewalt, auch einige Übertreibungen sind vorhanden. Doch was spricht dagegen, etwas mehr Empathie und Menschlichkeit an den Tag zu legen?

Und dafür, dass Jude sich trotzdem dadurch windet, zwar voller Selbsthass, Angst und etwas, das man nicht einmal mehr Verzweiflung nennen kann, verdient auch er als Person meinen großen Respekt, ebenso wie all diejenige, an denen solch eine Untat verübt wurde. Der Gedanke, dass diese Menschen genau durch diese Einsicht in das Leid meist zu den besten und gütigsten unter uns zählen, zu denen, die das größte Herz besitzen, weil die Wunde der Ort ist, in der das Licht eindringt, krampft sich alles in mir zusammen. Jude war genau so, unfassbar gütig, aufmerksam, unsagbar klug und einfühlsam, hilfsbereit und bescheiden, immer darauf bedacht, ein besserer Menschen zu werden, und dennoch so vom Leben bestraft, dass ich nicht anders kann, als das Schicksal zu hassen. Und noch mehr die Menschen, die anderen so abscheuliche, widerwärtige Dinge antun (wie sexueller Missbrauch), Menschen, die ihre Minderwertigkeitskomplexe damit ausgleichen, andere psychisch zu malträtieren und zu vergewaltigen. Was Jude sich selbst angetan hat, wie er sich zerstückelt, geschnitten und in Brand gesetzt hat, kann man nicht in schriftlicher Form wiedergeben, weil es keine Worte gibt, die einem diese Schrecken so nahe bringen könnten, als dass man es wirklich begreift. Dennoch hat es Hanya Yanagihara auf geradezu meisterliche Weise vollbracht. Das Zittern, welches sich durch meine Knochen wandte und zuckte, ist noch immer nicht ganz verschwunden.

Und als Malcolm, sein langjähriger Freund, und Willem, Willem, der alles für Jude gewesen ist, seine größte und beste Stütze, die einzige Person, die wirklich zu ihm durchdringen konnte, der immer gut und liebevoll gewesen ist, bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, öffnen sich wieder die Schleusen und eine Sturzflut sinnflut-artigen Ausmaßes ergießt sich über die Seiten, die eine kleine Unendlichkeit beinhalten. Und man wurde in seinen Erwartungen, die letzte Träne vergossen zu haben, ausgewrungen und dehydriert zu sein, Lügen gestraft. Natürlich, es hätte keine Überraschung sein dürfen, es war unausweichlich, dass noch ein harter Schlag erfolgt. Wo hätte sonst die Lehre gesteckt? Dass jedem irgendwann Gerechtigkeit widerfährt, dass es irgendetwas auf dieser Welt gibt, dass den Menschen ihr gebührendes Urteil zukommen lässt? Die Welt ist nicht gerecht und wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nie sein.

Und erneut werden Jude die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens gestellt: Warum weilen wir hier auf der Erde? Wozu lohnt es sich weiterzukämpfen? Warum sollte man es tun? Ist es das überhaupt wert? Hier wird auf das fundamentale Problem der Philosophie eine Antwort gesucht. Am Ende gibt Jude uns seine.

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