Der alte Mann und das Meer
Sobald der Gedanke an Kuba aufkommt, hängt dieser meist mit den Assoziationen von weißem Sandstrand, strahlend blauem, wolkenfreiem Himmel, Palmen, langen Nächten gefüllt mit Feiern und Tänzen, Erholung, Ausgelassenheit und Lebenslust zusammen. Kurzum, all den Dingen, die man sich für einen idealen Urlaub erhofft. Aber es gibt mehr als nur diese eine Facette, mehr Leben, die Anteil an dieser Insel und ihrem Gewässer nehmen. Mehr Personen und Umstände, welche die Gegend prägen. Manchmal sind es die kleinen Dinge und Geschichten, die einen nicht mehr loslassen wollen und gefangen halten.
Eben so erging es Ernest Hemingway, als er viele Jahre, bevor die berühmteste Parabel der modernen Literatur erschien, von einem alten Fischer las (in On the Blue Water), den man halb wahnsinnig vor Trauer in seinem Boot fand. Die Haie noch immer ihre Bahnen um ihn ziehend, den prachtvollen, zuvor gefangenen Fisch des Mannes im Magen liegend. Die Tatsache, dass dieses Ereignis auf einer wahren Begebenheit basieren solle, berührte Hemingway sehr, sodass er die Geschichte, nachdem fünfzehn Jahre ins Land gezogen waren, endlich auf‘s Papier brachte. Dass dies nicht vorher geschah, war allein seinem vorherigen Projekt (Wem die Stunde schlägt) geschuldet. Doch die lange Wartezeit wurde um ein Vielfaches durch die lebendige, berührende und vor allem intensiv geschilderte Geschichte des kubanischen Fischers Santiago aufgewogen. Nicht nur seine Leser zog er damit in den Bann, auch in den Literaturkreisen stieß er auf ein breites Band der Zustimmung, was der Grund war, weshalb er zuerst den Pulitzerpreis 1953 überreicht bekam und ein Jahr darauf den Nobelpreis. Die Frage bleibt jedoch, warum die Kurzgeschichte einen dermaßen in den Bann zieht.
Gleich zu Anfang lernt man einen Mann kennen, der aus den einfachsten Verhältnissen stammt, schon lange Zeit alleine in einer ärmlichen, kleinen Behausung lebt, eine Zeitung als Kopfkissen verwendet und mehrmals geflickte, zerschlissene Segel besitzt, mit denen er doch eigentlich seinen Unterhalt bestreiten müsste. An allem mangelt es, so scheint es zumindest. Doch Santiago kümmert dieser Umstand nicht weiter. Auch der Mangel an genügend Essen bringt ihn nicht aus der Ruhe, ebensowenig die Tatsache, seit nunmehr 84 Tagen keinen Fisch mehr gefangen zu haben. Es wird den Lesern das Bild eines Mannes mit schlichtem Gemüt, gelassener Ausstrahlung, viel Bescheidenheit, mangelndem Interesse an politischen Themen, aber auch mit konkreten Wertevorstellung gezeichnet. Auch scheint er nicht sonderlich viel Wert auf Gesellschaft zu legen, ist lieber für sich allein. Nur eine Person kann ihn noch in seiner Abgeschiedenheit erreichen: Der Junge. Sein früherer Helfer und Bootsgenosse. Dessen Eltern haben ihn jedoch bei einem anderen Fischer untergebracht, glauben sie doch, dass Santiago von salao (der schlimmsten Form des Pechhabens) heimgesucht wird. Das hält den Jungen dennoch nicht davon ab, sich rührend um den alten Mann zu kümmern, verbindet beide doch ein enges Band der Freundschaft, da dieser dem Fünfjährigen das Angeln beigebracht hatte.
So begibt sich Santiago am 85. Tag seiner Fischlosigkeit in aller Frühe zu seinem Boot, mit dem Willen, dieses Mal einen Fang mit nach Hause zu bringen. Und doch kann man nicht behaupten, einem skrupellosen Schlächter gegenüber zu stehen. Man spürt mit allen Poren die Liebe des Mannes zum Leben, zur Natur. Er lebt im Einklang mit ihr, bezeichnet die Meeresbewohner als seine Brüder und Schwestern, kennt ihre Gewohnheiten, weiß den Lauf der Gezeiten, den Wellengang und die Wolken zu deuten. Vom Meer spricht er in der weiblichen Form la mar, zärtlich, wie von einer Geliebten, ist sie doch mit der Hauptgrund, weshalb er sich täglich von seiner Bettstatt erhebt. Die Geschichte zeigt, wie viel Tiefgang in einem doch so trist und eintönig wirkendem Leben stecken kann. Vielleicht zeigt sich just durch die Klarheit, schlichte Eleganz und verbildlichte Schönheit des Geschriebenen, durch die Schlichtheit der Worte die magische Wirkung auf einen selbst.
Santiago erachtet das Leben der Tiere um sich herum nicht geringer als das eigene, preist ihre Schönheit an. Eine Hymne auf das Leben. Und dennoch ist es ein nie enden wollender Überlebenskampf. Jäger oder Gejagter. „Jetzt gibt es Sklavenarbeit zu tun.“ Ein Untergebener seiner weltlichen Bedürfnisse, gezwungen dazu, sein Leben damit zu bestreiten, das von anderen Lebewesen zu beenden. Aber auch sein Mannesmut, sein Stolz lässt es nicht zu, von dem herrlichen Marlin, größer als das Boot selbst, abzulassen, welcher sich am Köder festgebissen hat. Deshalb wird er auf dem Golfstrom entlang weit in den Norden gezogen, zwei Nächte hintereinander schlaflos verbringend, unsägliche Schmerzen aushaltend. Es demonstriert dessen stählernen Willen, sein Durchhaltevermögen und die Eigenschaft, sich in solch schwierigen Situationen nicht zu beklagen.
Noch immer kann man das Buch nicht weg legen, ist von der eindringlichen Schreibweise hypnotisiert, von der Willenskraft und den Leiden des alten Mannes gebannt. Aufgrund der Erzählperspektive aus der Sicht des Fischers wird man ins Geschehen hinein gezogen, spürt das Wiegen der Wellen, die taube linke Hand, inhaliert den Salzgeruch und ist ebenso an den Fisch gebunden, wie dessen Häscher. Völlig über den Punkt der Erschöpfung hinaus, fängt Santiago den Marlin mit ein wenig List, Geduld und viel Willenskraft ein, kämpft bis zur letzten Minute um einen klaren Verstand, zieht die Leine mit seinen wunden Händen immer weiter ins Boot zurück, weit draußen auf dem Golfstrom, 2 Tage von Zuhause entfernt. Doch er ist nicht von Euphorie erfüllt, nur von Trauer über den Tod eines so prächtigen Tieres, weshalb es ihm nicht mehr recht gelingen will, einen Blick auf dieses zu riskieren. „‘Du bist müde, alter Mann.‘, sagte er. ‚Innerlich bist du müde.‘ “ Einmal mehr fragt er sich, weshalb es sich noch zu kämpfen lohnt.
Irgendwo in ihm steckt das Wissen, und so verteidigt er den Fisch mit allen Mitteln, als die Haiinvasion startet, als sie große Stücke weißen Fleischs aus dem wehrlosen Fisch reißen, sich an ihm gütlich tun. Erst harpuniert er den einen, dann ersticht er den anderen. Und doch ist es nicht genug, zieht doch der Fisch eine breite Blutbahn hinter sich her, die wie ein Leuchtsignal noch mehr von ihnen anlockt. So verliert Santiago den Marlin letztendlich nach mehrmaligen Kämpfen an ein Rudel Haie, die den prachtvollen Fisch bis auf das Gerippe herunter nagen. Er scheitert am Ringen mit dem Meer, dem Gefecht mit der Natur und dessen Herausforderungen, dem Drang, seine Wege alleine bestreiten zu wollen und doch sehnt er sich nach nichts mehr, als der Gesellschaft des Jungen. Er ist der weitere Grund, weshalb der Alte frühs seinen Fuß auf die Erde setzt und aufsteht. Die Liebe zu ihm lässt ihn weitermachen.
Und obwohl er defacto besiegt wurde, gibt er nicht auf. Seiner Meinung nach ist die Haltung im Kampf entscheidend, er glaubt, die Würde messe sich daran, wie man sich im Angesicht der Niederlage behauptet. Man darf sich dem Schicksal nicht kampflos übergeben, kann alles schaffen, solange man nur an sich glaubt. "Ein Mann kann zerstört werden, aber nicht besiegt." Damit spricht er den Menschen, welche am Boden liegen und vielleicht nie wieder aufstehen können, ihre Würde ab. Aber obwohl viele Kritiker glauben, dies sei des Pudels Kern, bin ich da anderer Ansicht, denn das Buch rückt von Anfang an die Liebe zum Leben und der Natur in den Vordergrund, die Liebe zur See und dessen Bewohnern. Und die Geschichte endet letztendlich so, als dass der Junge den alten Mann umsorgt und mit ihm leidet. Es bedarf jemanden, der einen auffängt, wenn man fällt und verliert, jemanden, der die Arme ausbreitet und einem das Träumen nicht verlernen lässt. "Der alte Mann träumt von den Löwen."
Als abschließende Worte möchte ich noch hinzufügen, dass viele behaupten, Santiago verkörpere ebenjene Ideale und Werte, wie Hemingway sie selbst besitzt, obwohl er es rigoros abschreitet. Oftmals gelangten auch Leser zu der Auffassung, in den Haien dessen Kritiker zu finden, in dem großen saftigen Fisch einen Bestseller, Hemingway als symbolischer Jäger nach einer neuen Idee. Und doch, was soll ich sagen, wie auch der große Schriftsteller selbst meinte: All das ist nur die Spitze des Eisbergs. Entscheide selbst.