Beständig fließt er, der Fluss, wispert, lockt und will dich mit sich tragen, dich einhüllen, treiben lassen, voranbringen. Doch da sitzt du, am Ufer gefesselt, siehst den Weg von Rissen durchzogen vor dir ausgestreckt, so grau wie Asche, die das Grab jedes nicht gegangenen Schrittes darstellt, welcher dich zum Fluss hätte führen können.

Deine Augen sind seit Äonen ganz starr vor Müdigkeit, längst von Spinnennetzen verklebt, sodass diese nur noch matt durch den Schleier schauen, ein Bild sehen, das im Herzen erlischt. Dein Atem geht flach, stoßweise, hervorgestoßen wie ein gehetztes Tier, auf der Flucht vor sich selbst. Seile schnüren dir die Luft ab, sind gesponnen aus Worten, die sich zu Sätzen verknüpfen, gemacht aus dem Material deiner Gedanken, weshalb sie umso tiefer schneiden. Jede Bewegung ein Kampf gegen dich selbst, den du mit jedem weiteren Tag ein Stück weit weiter zu verlieren drohst. So bleibst du lieber stehen, rührst dich nicht, sodass du bald vom Staub ebenso grau geworden bist wie der Weg, den du vor dir zu sehen meinst und nicht zu überqueren vermagst. Der Weg scheint zu bröckeln, droht dir, beim nächsten Schritt unter den Füßen nachzugeben; dabei ist es nicht der Weg, der dir den Boden unter den Füßen wegzieht, sondern dein Gedankengut, welches dich langsam in die Knie zwingt. Doch dein Herz rast, pumpt geschwind heiße Schauer durch deinen Körper, wirbelt hungernde, vielzahnige Gedanken auf, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. So elektrisiert, einem Kurzschluss nahe, versuchst du alles, um nur weiter zu funktionieren, nicht den Geist aufzugeben. Deshalb ignorierst du den Ruf des Flusses, der dir ein leichteres Sein verspricht, dich tragen würde, wenn du es zuließest.

 

Vielleicht kennt ihr auch einige Menschen, die von Angst immer weiter aufgezehrt werden, sich hinter Masken und Floskeln verstecken, die ihrem Gegenüber demonstrieren sollen, dass alles in Ordnung ist und man lediglich keine Lust mehr darauf hat, gewissen Tätigkeiten nachzugehen, neue Dinge zu erlernen. Vermutlich redet man es sich auch selber ein. Alles, was ihrem normalen Alltag entgegen steht, lässt sie erstarren. Deshalb vermeiden Sie es, einen unerwarteten Schritt zu setzen und sich Ihrer Angst zu stellen. Problematisch ist, dass sie häufig denken, Ihre Lebenslage könne nicht besser werden, dass sie denken, sie wären glücklich oder - ganz im Gegenteil dazu - sie würden es nicht verdienen, wieder gänzlich in den Fluss des Lebens einzutauchen.

Angst ist nicht per se schlecht, da sie im Laufe der Evolution unser Überleben mehrfach aufgrund der Adrenalinausschüttung gerettet hat und auch heute noch unsere Sensoren fit hält. Doch heutzutage tritt vermehrt eine extreme Form von Angst auf, die häufig dazu führt, dass man sich selber einschränkt, dass wir Gedanken aus dem Weg gehen, um uns mit diesen nicht auseinandersetzen zu müssen, sodass unsere Lebensqualität kontinuierlich sinkt. Sich abrupt und unausweichlich den Gefühls- und Gedankenströmen zu stellen, ist weitaus schwieriger, als nach und nach immer mehr Einschränkungen in Kauf zu nehmen. So verändern wir unseren Alltag immer mehr, um unser Gedankengut nicht ändern zu müssen, um unserer Angst einen bequemen Sessel hinstellen zu können, in dem sie immer präsent, doch gleichzeitig in vollkommener Ruhe, klammheimlich unsere Handlungen steuern kann. Es ist bequemer, als aufzustehen und sich von dieser Entwicklung fortzubewegen, wieder direkt ins Leben. Manche wissen auch nicht, wovor sie weglaufen müssen, da ihre Angst zu einem heimischen Bewohner geworden ist.

So schleppt man diese ganzen Ängste, welche sich einem Schuldenberg hinter dir auftürmen, an und manchmal ein Leben lang mit sich herum. Es scheint einfacher, diesen Prozessen ihren Lauf zu lassen, anstatt sich aktiv dagegen zu wehren, obwohl man ein Vielfaches gewinnt, wenn man endlich aufsteht und sich gegen diese Entwicklung wendet. Manchmal braucht es nur einen Auslöser, der dich anstupst. Es kann eine Qual sein, den Prozess in Gang zu setzen und ihn zu überstehen, doch das Endziel ist es wert. Nicht nur für dich, da du ein Leben fristest, das nur der Abglanz des Lebens ist, welches du führen könntest, sondern auch für deine engsten Vertrauten, die dich immer weiter zusammenschrumpfen sehen.

Vergleichend lässt sich die Situation aus dem Film "Geralds Game" nennen. Jessie wurde in ihrer Teenagerzeit von ihrem Vater missbraucht (im echten Leben sind es auch andere Auslöser, die dazu führen, dass die Angst jemanden in der Mangel hält), doch dieser brachte sie durch geschickte Manipulation dazu, ihrer Familie nie etwas davon zu erzählen. Sie handelte in dem Glauben, ihre Liebsten zu schützen und sich selber wohl nie wieder entblößen zu müssen. Stille war der erste Preis, der ihr angeboten wurde, unwissend darüber, dass sie noch viel mehr dafür geben musste, als sie erhielt. Dieses Trauma, diese Angst führte dazu, dass sie nie wieder ganz aus diesem Muster fliehen konnte, schließlich hat sie die Geschehnisse aufgrund der Stille nie ganz verarbeitet, nie ganz verarbeiten können. Deshalb heiratete sie später einen Mann, der den selben Beruf wie damals ihr Vater nachging und Emotional nicht ansprechbar war.

Dieses Mal wurde sie durch Comfort gekauft. Sie musste sich erneut nicht ihrer Angst stellen, sondern konnte es sich in ihr bequem machen. Sie musste sich nicht ändern - bis ihr Mann starb und sie das erste Mal seit langer Zeit wieder mit ihren Gedanken alleine war. Sie musste sich nun ihrer Vergangenheit und der Unausweichlichkeit ihres Seins stellen. Sonst würde sie für immer heimgesucht werden, jede Nacht aufs Neue, denn die Tür zu ihren Ängsten wurde ausgestoßen. Um die Ungeheuer aus diesem Geisterhaus los zu werden, musste sie sich ihnen doch noch stellen, weshalb sie ihre Hände am Ende bluten ließ, um sich von ihren Fesseln zu befreien, welche sie jahrelang an alte, ungesunde, zerstörerische Gewohnheiten festketteten. Als sie sich ihren Ängsten am Ende des Filmes stellt, bemerkt sie, dass sie gar nicht so groß sind, wie sie immer glaubte. Sie hätte sich ihnen bereits viel früher erfolgreich stellen können, wäre sie ihnen gleich entgegengetreten. Es ist besser, die Ketten später zu sprengen und sich ins Leben zu retten, als dass man es nie tut.

Es braucht nur einen Anstoß. Dabei sollte man aber bedenken, dass man nicht alles alleine meistern kann, geschweige denn meistern muss, weshalb es vollkommen in Ordnung ist, Rat zu ersuchen, damit man nicht alleine dagegen ankämpft. Wir sollten die Menschen um uns herum unterstützen, ihnen helfen, damit sie wieder auf eigenen Beinen dem Leben, welches sie verdienen, entgegenstreben können. Sie würden ansonsten so viel verpassen. Dafür ist jeder erkämpfte Schritt mehr wert als Gold es jemals sein könnte. Es ist, als hätten Sie über die Jahre einen heftigen Muskelschwund erlitten, doch das Gute ist, dass man mit jedem Schritt stärker wird und diese Muskeln trainieren kann. Du musst dich nicht deiner Angst ergeben und ihr dein Leben opfern.

Ein Anfang wäre, deine Ängste aufzuschreiben, sie näher zu beleuchten und herauszufinden, weshalb sie dich peinigen. Wenn du dir dessen einmal vollkommen bewusst bist, kannst du das nächste Mal, wenn Entscheidungen bevorstehen oder jemand etwas bestimmtes plant und du dich weigerst, zu partizipieren, die Frage stellen, weshalb du dich zurückhältst und einigelst. Sind es wirklich logische Gründe oder Ausreden, hervorgestoßen aus Angst? In dem Moment kannst du nach Hilfe fragen, deinen Gegenüber wissen lassen, wie es um dich bestellt ist und nach Unterstützung bitten, wobei er dich womöglich das ein oder andere Mal anstupst, damit du dich den Ängsten stellen musst - das ist die beste Medizin.

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