Anstatt das schlichte Wort "Ich" bei Feststellungen, Bewertungen, Berichten, Gesellschaftsvorstellungen etc. zu schreiben bzw. bei Konversationen zu verwenden, wird häufig die geschätzte Pluralform "wir" oder verallgemeinert „man“ verwendet, was viele verschiedene Gründe zur Ursache haben kann.
Manch einer will damit lediglich seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, welche gegebenenfalls die eigene Meinung vertritt, kundtun und auf die breite Unterstützung hinweisen, welche den eigenen Aussagen häufig zusätzliches Gewicht verleihen soll bzw. verleiht. Insbesondere bei Forderungen besitzt dieses kleine Wort eine nicht unerhebliche Kraft (wie zum Beispiel „Wir fordern den Kohleausstieg!“, womit nicht nur die Schülerbewegung ihren Standpunkt klar machen will, sondern auch Wissenschaftler, Eltern etc.).
In dem Sinne kann„Wir“ auch darauf hinweisen, dass die Aussagen auf eine größere Gruppe an Menschen zutrifft, wie beispielsweise durch empirische sowie wissenschaftliche Studien belegt sein kann oder durch eigene Anschauungen bestätigt wird. Und zu eben jener Ansammlung an Menschen zählt man sich selbst hinzu.
Andere wiederum versuchen sich hinter einer Gruppe, die aus mehreren Personen zu bestehen scheint, zu verstecken, weil das „Ich“ verletzlich macht und in manchen Situationen eine Angriffsfläche bietet, welche ungerechtfertigt sein kann und den eigenen Standpunkt oder Fakten kontaminiert. In einer fachlichen Arbeit schreibt man auch nicht in der „Ich“-Form, da dies unsachlich und -professionel wäre.
Weiterhin ist es nicht unüblich, dass jemand in dieser Form schreibt, weil er andere Menschen mit einbeziehen, ihnen vermitteln möchte, dass sie ein Teil des Ganzen sind. Das „Wir“ impliziert nämlich, dass auch der Leser damit gemeint ist. Dadurch soll die Person sich angesprochen fühlen.
Es kann auf andere außerdem sehr egoistisch wirken bzw. uns so vorkommen, wenn wir in einem verhältnismäßig kurzen Text zu häufig das Personalpronomen „Ich“ benutzen, da wir in dem Fall augenscheinlich großen Wert auf unsere eigene Meinung sowie eigene Erfahrungen legen scheinen und wie ein Egoist dastehen (was meistens auch nicht willkommen geheißen wird).
Es kommt auch nicht selten vor, dass wir uns mit „man“ von Geschehnissen, Gedanken, Werten, ... distanzieren wollen, insbesondere dann, wenn die Thematik emotionale Bilder von Ereignissen hervorruft, die Einen (stark) belasten. Um sich nicht von diesen überwältigen zu lassen oder zu zeigen, wie persönlich dies für Einen ist, halten diese Leute Abstand dazu. Wenn von „man“ die Rede ist, kann schließlich auch jemand anderes gemeint sein.
Was mich jedoch in puncto der „Ich-Wir-Frage“ am meisten fesselte, seit ich „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ las, ist dies: Es gibt Menschen, die ein großes Problem mit dem Begriff „Ich“ haben. Sie sind der Ansicht (laut Prechts Ausführungen), dass die Seele kein erfahrbarer Gegenstand ist, also nichts Reales und somit nicht mehr als eine Vorstellung (so Hume). Das „Ich“ sei keine scharf begrenzte Einheit, wird von einem Wust an Emotionen bestimmt, welche mit der Außenwelt in regem Kontakt stehen (so Ernst Mach). Aber es gibt kein Zentrum in uns, wo dieses „Ich“ Zuhause ist. Und da in der Naturwissenschaft nichts als wahr anerkannt, sondern nur als Hypothese angesehen wird, solange man es nicht sehen, hören oder messen kann, wird das „Ich“ zwar nicht aus der Welt gestrichen, aber sehr skeptisch beäugt – wobei die Neurologen diesen Begriff aus der Welt streichen würden, da es nichts gibt, „was den Menschen im Inneren zusammenhält“*. Die Naturwissenschaftler betrachten es als nicht gesichertes Faktum, weshalb diese Leute (vorrangig Psychologen) lieber vom „Selbst“ sprechen, da dies so etwas wie die Beurteilungs- und Willenszentrale sei.
Deshalb kommt ebenso die Frage auf, ob diese Menschen überhaupt von einem Wir sprechen können, schließlich ist es aus mehreren „Ich“ zusammengesetzt. Denn wenn sie nicht daran glauben, dass es etwas in ihnen gibt, was sie zusammenhält, was sie ausmacht, dann glauben sie das wohl auch nicht in Bezug auf andere.
Vermutlich spielt in diese Problematik auch mit hinein, dass diese Menschen sich selbst und all das, was sie ausmacht, einen geringen Wert beimessen; sie glauben, nicht gut, wertvoll genug zu sein, um sich selbst als „Ich“ zu bezeichnen.
Aber: Nur, weil man das Ich nicht messen oder erfassen kann, bedeutet das nicht zwingender Weise, dass es dieses nicht gibt: Herr Precht sprach davon, dass wir viele verschiedene Ich-Zustände besitzen, wie zum Beispiel unser Körper-Ich (Gesundheitszustand, Fitnessgrad, Attraktivität, Selbsteinschätzung, Fremdwahrnehmung, Bedürfnisse etc.),das autobiografische Ich (eine Lebensgeschichte besitzen und diese kennen) oder das selbstreflexive Ich (über sich selbst nachdenken können).
Ebenso wie Herr Precht denke ich, dass unser „Ich“ sehr komplex und vielschichtig ist, weshalb man es nicht richtig fassen kann, dennoch ist es vorhanden und nicht unbedingt unrettbar, wie E. Mach meinte. Das „Ich“ setzt sich aus all unseren Empfindungen, Erfahrungen, Zukunftsplänen, Träumen, Entscheidungen, Bedürfnissen, Gedanken, Fähigkeiten, Interessen, genetischen Anlagen, unserem Körper, Raum- Zeitgefühl, Gewissen, aus unserer Beurteilungs- und Willenszentrale (also dem Selbst), unserer Moral, Identifikation, Wahrnehmung, und der Möglichkeit, uns weiter zu entwickeln zusammen, jegliche Facetten unserer Person; und all das ist beeinflusst durch unsere Umwelt, steht in ständiger Verbindung miteinander.
Zum Zeitpunkt unseres Todes hört unser Selbst auf, zu existieren, doch unser „Ich“ bleibt Freunden, Verwandten und Geliebten in Erinnerung, all das, was uns ausmacht.
Es ist schon sehr spannend, wie viel die kleine Variation unserer Wörter unbewusst etwas über uns auszusagen vermag und wie tiefsinnig die Auseinandersetzung mit den Begriffen sein kann. Manchmal wissen wir, weshalb jemand eben jenes bestimmte Wort benutzt, aber häufig ist es eben nicht der Fall. Und dann bleibt ein unendlich großer Raum für Hypothesen. Deshalb führt uns unser Weg auf der Suche nach dem Verständnis anderen gegenüber auch unweigerlich an uns selbst vorbei.
Wenn euch noch solche kleinen Wörtchen einfallen, die je nach psychischen Zuständen bzw. je nach Intention variieren, dann schreibt es doch in die Kommentare! Auch wenn euch noch beispiele zu der Ich-Wir-Nutzung einfallen. Vielleicht kann jemand von euch bezüglich der Ich-Selbst-Problematik mehr Licht ins Dunkeln bringen.
https://www.seele-und-gesundheit.de/psycho/identifikation.html
Wer bin ich und wenn ja wie viele*