„Charlottens Inneres ist beherrscht vom Bösen. Sie trägt die Maske der Sittenstrengen. Sie ist getrieben von der Angst um ihre Selbstsicherung, die Sicherung ihrer Ehe mit Eduard. Char­lotte ist in ihrem Wesen eine Opferpriesterin der Gesellschaft. In keiner Figur hat Goethe mit dem puren, humorlosen, distanzlosen Böse-Sein der Maske so unheimlich Ernst gemacht wie in der Charlotte der "Wahlverwandtschaften".

Isabella Kuhn in: „Goethes Wahlverwandtschaften oder das sogenannte Böse“

 

Von meiner Warte aus kann ich Frau Kuhns Aussagen in der Gesamtheit nicht zustimmen. Mir scheint es, als hätte sie das Buch einmal gelesen, wobei sich diese Idee manifestiert hat, in der Charlotte das manifestierte Böse ist – und seitdem hat sie diese Idee nicht mehr gründlich hinterfragt, sondern nur noch nach Indizien gesucht und sie in das Gesamtbild hineingeschustert.

Auf den ersten Blick ist es ein Stück weit verständlich, dass zu sie zu dem Schluss gelangt ist, Charlotte würde Eduard lediglich aus den Konventionen heraus bei sich behalten wollen, schließlich scheinen sie bereits von Anfang an nicht allzu gut zu harmonieren – sie verbringen nicht sonderlich viel Zeit miteinander, wissen nicht viel zu bereden und fühlen sich im Laufe des Buches immer stärker zu jemand anderem hingezogen.

Doch im Gegensatz zu Eduard unterbindet Charlotte ihre Gefühle, obschon sie sich in dem Moment augenscheinlich besser mit dem Hauptman versteht als mit Eduard. Der Hauptmann ist bedachter, planvoller und bodenständiger als dieser, was den Hauptmann zu einem besseren Gesprächs- und Projektpartner macht. Sie genießt seine Gegenwart und ist stolz auf das Lob des Architekten. Dennoch widerspricht sie nicht, als dieser woanders hingeschickt werden soll, um einen neuen Beruf nachzugehen. An der Stelle hinkt allerdings bereits eine Anschuldigung von Frau Kuhn – Charlotte ist nicht getrieben von ihrer Selbstsicherung. Für diese hätte sie nicht bei Eduard bleiben müssen, schließlich bot auch der Hauptmann ihr seine Hand an. Dabei steht diesem zudem noch eine strahlende Karriere bevor, sodass dies kein Hindernis für eine Vereinigung dargestellt hätte.

Mit der Aussage, Charlotte versuche ihre Ehe zu sichern, kommt die Autorin dem Kern schon um einiges näher. Schon am Anfang des Werkes, als die Sprache auf die Wahlverwandtschaften fiel, äußerte sie klar und deutlich ihren Standpunkt – nämlich den, dass ihr „Einigungskünstler (…) in jedem Fach der Welt willkommen“ wären, viel willkommener als Scheidungskünstler, womit sie nur aussagt, dass sie keine Beziehungen mit wichtigen Menschen brechen möchte, nur um wiederum neue Beziehungen mit anderen Leuten einzugehen. Dementsprechend versucht sie mit Anstrengung, ihre Ehe zu retten und wünscht, dass Eduard sich das Anliegen ebenfalls zu Herzen nimmt.

Die Sittenstrenge könnte man unter dem Schleier ihres Drängens vermuten, doch ich gehe eher davon aus, dass Charlotte ihre persönlichen Wertevorstellungen einbringt, ihre Lebenserfahrung und -weisheit und am Ende auch ihre Liebe zu Eduard.

Diesen letzten Umstand sollte man sich als Leser immer wieder mal vor Augen führen: Die beiden hatten bereits eine gemeinsame, gefühlsgeladene Geschichte, von welcher der Leser jedoch nur den Hauch einer Andeutung erfährt. Als sie Besuch von alten Freunden erhalten, wird auf "alte Geschichten und Abenteuer" verwiesen, welche Charlotte und Eduard verbinden. Damals hat Eduard mehrere Hindernisse überwunden, nur um ihr seine Liebe gestehen zu können, welche jene erwiderte.

Hiervon kann man nicht reden, wenn es um Ottilie geht. Sie hat seine Liebesbezeugungen lange nicht erwidert, weil sie diese Empfindungen nicht spürte – es war für sie eine Selbstverständlichkeit, für alle eine freundliche Gesellschafterin zu sein und dienstbeflissen ihren Aufgaben nachzugehen. Erst zum Ende hin hat er sie mit seinem Überschwang, seinem aufdringlichen Werben umstimmen können. 

Doch diese Beziehung beruhte nur auf der Neigung - sie war (noch) keine echte Liebe. Ähnlich verhielt es sich mit Charlotte und dem Hauptmann – und diese waren sich dessen auch gewahr. Aus jenem Grund hat sie den Hauptmann vorerst abgewiesen; wenn man jedes Mal seinen Neigungen nachgeben würde, wäre es, als würde man von einer Strömung mitgerissen, immer wieder hin und her geworfen werden.

Aus dieser Neigung könnte eines Tages Liebe entspringen. Und dann hält diese wiederum eine Zeit lang an; sie setzen ebenso wie Charlotte und Eduard ein Kind in die Welt und dann – es besteht die Möglichkeit, dass sie ihr Lebtag zusammen verbracht hätten, aber die Chance, dass sie sich später wieder in jemand anderes verliebt, eine neue Neigung entwickelt hätten, wäre mindestens ebenso groß. Und was wäre dann passiert? Hätten sie sich wieder geschieden?

Charlotte hat diesen Lauf durchschaut und sich dagegen entschieden. Sie wollte nicht, dass ihr Leben so aussieht, es sich in der Zukunft in diese Richtung entwickelt, wenn sie doch in dieser Beziehung mit Eduard ebenfalls Glück und Rückhalt erfahren kann. Doch vielleicht ist es genau das, was die Autorin nicht verstanden hat. Ihre vorschnelle Verurteilung liegt womöglich daran, dass ihrer Ansicht nach Charlottes Wertevorstellung sowie die von Goethe nicht mehr ganz unserem Zeitgeist entspricht. Vielleicht schaute sich Frau Kuhn dazu noch die ellenlange Liste an Frauen an, mit denen Goethe verkehrte, sodass sie sich in ihrer Idee nur bestärkt sehen konnte. Wie könne er schließlich dieses Werk schreiben, obwohl seine Leben ein klitzekleines bisschen anders aussah?

Was der Autorin jedoch hätte auffallen müssen, ist, dass über Charlotte nahezu kein schlechtes Wort gefallen ist, während Goethe von Eduard meinte, dass dieser es nicht gewöhnt sei, „sich etwas zu versagen“. Er „war das einzige, verzogene Kind reicher Eltern“. Die ganze Geschichte über agiert er willkürlich, ignorant, stürmisch und wie von Schicksalszeichen besessen.

Er wähnte sich Ottilie zugehörig, da auf einem Glas die Initialen OE standen - statt die Initialen für das zu sehen, was sie sind (die Anfangsbuchstaben seiner beiden Vornamen), schusterte er eine größere Bedeutung hinein, nämlich die Namen Ottilie und Eduard, auf immer vereint. Und als das Glas nicht zerbricht, fühlt er sich bestärkt, ist gar wie berauscht. Und sein Glück wurde komplett, als Ottilie seine Unterlagen kopieren (in dem Fall abschreiben) sollte und sie nach einiger Zeit seine Handschrift übernommen hat, sodass die Kopie identisch wirkt. Das musste das Zeichen dafür sein, dass sie ihn liebt. Er ist wie berauscht und nicht mehr zurechnungsfähig.

Das trat deutlich zu Tage an Ottiliens Geburtstag. Während der Festlichkeiten, als das Feuerwerk starten sollte, fielen mehrere Menschen aufgrund des schlecht gesicherten Geländers ins Wasser; ein Junge war aufgrund dessen kurz vor dem Ertrinken und deshalb dem Tode nahe, als der Hauptmann ihn rettete. Um bei dem Erwachen des Kindes gegenwärtig zu sein und Hilfe anbieten zu können, wollte Charlotte unbedingt mit ins Krankenzimmer, was zum Teil ihre Warmherzigkeit beweist. Eduard stattdessen wollte unbedingt draußen bleiben und kümmerte sich nicht weiter um den Jungen, da er Ottilie unbedingt das Feuerwerk zeigen wollte. Charlotte wollte sich um Ottilie kümmern, welche ganz mitgenommen gewesen war, doch Eduard ließ das nicht zu, behielt sie eng bei sich.

Damit bewies Eduard Unvernunft, ein Stück weit Kaltherzigkeit und Wahnsinn. Und diesen Wahnsinn, diesen Leichtsinn übertrug er ein Stück weit auf Ottilie. Über diese schrieb Goethe deshalb, dass sie aus ihrer „Bahn geschritten“ ist. In dem Brief zur Entsagung von Eduard schrieb Ottilie weiterhin, dass ein „feindseliger Dämon“ Macht über sie gewonnen habe und sie darin hindert, wieder in Einklang mit sich leben zu können. Dieser Dämon war ganz sicher nicht Charlotte.

Das soll nicht bedeuten, dass Charlotte eine Heilige ist und mit ihrem Verhalten keinen Schaden angerichtet hat, doch nachdem sie sich von dieser Verführung befreit, dieser potenziellen Zukunft entsagt hat, versuchte sie, die Scherben aufzulesen, welche beide hinterlassen haben. Menschen begehen Fehler, doch das ist nun einmal ein elementarer Bestandteil des Menschseins. Immerhin versuchte Charlotte, meistens alles zu durchdenken und Kritik anzunehmen, sich damit auseinander zu setzen. Dabei ist sie sehr gewissenhaft und fasst Beschlüsse mit Ruhe und Klarheit. Sie übereilt ihre Beschlüsse nicht.

Vor allem aber besitzt sie die Größe, ihre Wünsche hinten an zu stellen und das zu tun, was sie als das Richtige erachtet. Sie wünschte keine Scheidung, doch sie willigte ein, als es Eduard und Ottilie immer schlechter ging – sie liebte die beiden auf unterschiedliche Art und Weise sehr. Man sollte den folgenden Textabschnitt einfach einmal auf sich wirken lassen:

„Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl. Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, daß man das Kind (Ottilie) gegenwärtig nicht bestürmen möge. Eduard fühlte den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm in die Scheidung zu willigen. (…) er dringt in Charlotte, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut was er fordert.“

Mir scheint es nicht so, als würde Goethe mit solch warmen Ton über eine Frau schreiben, deren Inneres vom Bösen beherrscht wird. Sie ist gefüllt von Nachsicht und Empathie trotz allem, was Eduard ihr damit antut. Sie ist erwachsener als Eduard, der die Größe ihres Handelns nicht wirklich ermessen kann. Denn wäre sie tatsächlich eine fiese Hexe, hätte sie ihn dahinsiechen lassen können, um nach seinem Tod wieder zu heiraten. Damit wäre den Sitten genüge getan. Doch das entsprach niemals ihrem Willen.

Und wäre sie tatsächlich dermaßen sittenstreng, wären ihre alten Freunde nicht in ihren vier Wänden willkommen gewesen, schließlich nehmen diese es mit Scheidungen nicht sonderlich genau.

Deshalb hätte die Autorin noch einmal einen Schritt zurücktreten sollen, um das große Ganze zu betrachten, um zu sehen, in welchen Konstellationen die Personen stehen und welchen Handlungen diese nachgehen. Es ist nahezu unmöglich, die subjektive Brille von der Nase zu nehmen, doch manche Details sind augenfällig, wenn man sie sich noch einmal ohne die eigene Ideenlupe vor Augen führt. Das scheint mir Frau Kuhn nicht ganz getan zu haben.

 

 

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