Wann habt ihr das letzte Mal Wirklichkeit zugehört und versucht, euren Gegenüber zu verstehen? Wann habt ihr das letzte Mal euren eigenen Standpunkt überdacht und andere Ansichten oder andere Fakten zugelassen? Wann habt ihr euch das letzte Mal eure Fehler eingestanden? Und wann habt ihr es euch das letzte Mal erlaubt, anderen eure Fehler zu gestehen und daran zu arbeiten, um sie das nächste Mal nicht zu tun?
Es gibt wohl einige von euch, die mittlerweile im Zeitalter der digitalen Medien angelangt sind und sie dementsprechend auch häufiger benutzen. So seid ihr wohl auch auf YouTube, Instagram und/oder Facebook unterwegs. Habt ihr euch unter den dort geposteten Beiträgen dabei bereits einmal intensiver mit der Kommentarspalte auseinandergesetzt? Dort prallen gefühlt immer unterschiedliche Welten aufeinander, welche im Krieg miteinander stehen. Beim Lesen der ganzen Aussagen merke ich zumindest immer wieder aufs Neue, dass wir in unterschiedlichen Realitäten leben – was bei der Komplexität unserer Welt nun einmal verständlich ist. Wir sind Produkte unserer Erziehung, unseres Umfelds, unserer Gene und der Medien, die wir konsumieren.
Dabei kommen wir aus verschiedenen Ländern, aus verschiedenen Gegenden, aus verschiedenen Milieus, sind Kinder von Eltern, die alle ihre eigenen Wertevorstellungen besitzen und an uns weitergeben. Oder es sind Menschen, die ohne Eltern aufwuchsen, früher erwachsen werden mussten und vielleicht schon viel Leid erfahren haben. Es gibt Menschen, die ganz unterschiedliche Arten von Familienkonstellationen kennengelernt haben. Es gibt Menschen, die einen besseren Zugang zur Bildung genossen haben als andere, die vielleicht auch teilweise diskriminiert und ausgeschlossen worden sind. Es gibt Menschen, die lange keine richtigen Freunde gefunden haben und alleine dastanden. Es gibt Menschen, die zeitlebens an der Grenze zur Armut stehen. Kurz um: Jeder Mensch besitzt seine ganz individuelle Lebensgeschichte, die einen doch recht stark geprägt hat. Positiv als auch negativ.
Doch das übersehen wir recht häufig. Wir übersehen, dass nicht jeder auf dem gleichen Stand wie man selbst ist, dass man selbst vielleicht nicht auf dem gleichen Stand wie die andere Person ist. Stattdessen versteifen wir uns in unsere Meinungen, starren mit einem Tunnelblick in die Welt, anstatt uns aus eben jenem Grund mit anderen Menschen auseinanderzusetzen und zu versuchen, sie besser zu verstehen. Fairer Weise muss man sagen, dass manche Menschen ebenso wenig gewillt sind, auf dich einzugehen und dich zu verstehen. Und dass es schwierig ist, immer alle Perspektiven und deren Gründe mit einzubringen, da man so noch langsamer zu einem Ergebnis kommt. Das sollte dennoch nicht der Anlass dafür sein, die Chance zu verpassen, über uns hinauszuwachsen und anderen Menschen respektvoller gegenüberzutreten.
In der Hinsicht gibt es zumindest noch sehr viel Handlungsbedarf. Das zeigen beispielsweise die Kommentarspalten immer wieder ausgezeichnet, da sie nicht selten vor Polemik strotzen. Es wird alles viel zu stark in weiß und schwarz gemalt. Wir übersehen die Grauzonen dazwischen. So bilden sich zwei Lager, die immer Anhänger finden, welche sich gegenseitig weiter aufwiegeln. Die Masse bestärkt sich gegenseitig in ihrer Meinung – dadurch werden sie extremer darin, diese zu äußern. Die Debatten werden mit immer mehr Emotionen gefüllt, man lässt sich mitreißen, ohne einen Schritt zurückzutreten und die ganze Lage noch einmal zu überdenken, Themen zu differenzieren.
Davon kann ich mich nicht ganz ausnehmen. Auch ich habe schon einmal unter einem Beitrag entrüstet gefragt, wie man in der Kommentarspalte nur zu diesem gewissen Schluss gelangen konnte (es ging um den Klimawandel und Leute, die diesen Leugnen). Obwohl ich nicht direkt auf die Aussagen von jemandem geantwortet und die Person direkt angegriffen habe, hätte ich doch lieber einen konstruktiven Beitrag darüber schreiben sollen, weshalb ich diese Ansicht nicht teile.
Sicher, das Video hatte den Inhalt schon gut zusammengefasst und die Kommentare mancher Nutzer haben meine Meinung und die Fakten, welche mir geläufig sind, deutlich zusammengefasst und dementsprechend hatte ich nichts hinzuzufügen, doch so einen nutzlosen Kommentar kann man sich einfach sparen. Stattdessen hätte ich fragen können, wie die Person zu diesen Ansichten gelangt ist. Das ist kein Garant dafür, dass die Person ihre Position noch einmal überdenkt, aber sie lockt die Person aus der Reserve und fordert sie auf, darüber nachzudenken. Die sokratische Methode wird nicht grundlos noch immer unterrichtet und angewandt.
Man sollte diese Methode höflich anwenden, selbst wenn der erste Kommentar der anderen Person nicht unbedingt freundlich formuliert worden ist. Es ist keine Rechtfertigung dafür, auf einer Person herumzuhacken und ihr in dieser Form vor Augen zu führen, weshalb sie in den eigenen Augen falsch liegt. Das führt nur dazu, dass wir einen Abwehrmechanismus auslösen und diesen Menschen in die Rolle drängen, sich auf Teufel komm raus verteidigen zu müssen. So überzeugt man niemanden oder lässt sich auf die Argumente des anderen ein.
So habe ich beispielsweise vor kurzem eine Debatte unter einem Beitrag von Martin Sonneborn, welcher eine Entschuldigung für das Fernbleiben von der Schule aufgrund von Corona darstellen soll, verfolgt, welche ich recht problematisch finde und diese Streit-Situation wieder aufgreift. Die Person meinte, dass der Lockdown den Linken gut täte, da die Schüler immer weiter verblöden und diese Partei deshalb wählen würden. Daraufhin gab es Gegenwind. Es gab ein paar gute Gegenargumente, die teilweise nicht gut widerlegt wurden. Es gab aber auch ein paar Angriffe gegen den Kommentator, welche die Diskussion in eine vollkommen unangebrachte, entgegengesetzte Richtung gelenkt haben. So haben sie sich u.a. über die Profilbilder des anderen aufgeregt und unterm Strich irgendwelche Angriffspunkte gesucht, weil einem selbst die Argumente ausgegangen sind, man den Kontrahenten aber so schlecht dastehen lassen wollte wie möglich. Am Ende habe ich deshalb höflich nachgefragt, wie der ursprüngliche Kommentator zu dem Ergebnis gekommen ist und welche Argumente er dafür vorbringen kann– und ich habe darauf keine Antwort erhalten. Das sagt mir mehr als die ganzen Vorwürfe dazwischen.
Dabei ist das ein Thema, über welches man sich hätte sachlich austauschen können. Ein Thema, mit dem man sich sachlich auseinandersetzen sollte. Auf der einen Seite zeichnet sich nämlich wirklich ab, dass es Schüler gibt, die durch Corona abgehängt werden und diese Zeit nicht mehr wirklich aufholen können – sei es, weil sie keinen Internetzugang haben, weil sie aus einer bildungsfernen Familie stammen, weil sie ausländische Wurzeln aufweisen und/ oder weil sie psychische Störungen aufgrund der Pandemie erleiden. Damit muss man sich auseinandersetzen und abwägen, ob man es so hinnehmen muss, da die Lage es verlangt (was hier der Fall ist) oder eben nicht – und man könnte darüber diskutieren, was man an der gegenwärtigen Lage zu Gunsten der Menschen verbessern kann. Doch es ist der falsche Weg, deshalb eine politische Gesinnung ohne vorgebrachte Argumente gänzlich durch den Schlamm zu ziehen und diese Menschen der Dummheit zu beschuldigen.
Ich kann es verstehen, dass man bei solchen Ansichten aus der Haut fährt, doch es verbessert die Lage am Ende nicht, sondern verschlimmert sie nur. Man sollte diese Aussagen einen kühlen Kopf bewahren und sie nicht persönlich nehmen. Dann kann man rationalere Entscheidungen treffen und der Person auf diese Weise eine andere Sicht darlegen. Wenn man sich so verhält, empfindet es dein Gegenüber womöglich als nicht dermaßen entwürdigend und kann besser mit Fehlern umgehen. Fakt ist nämlich, dass unsere Gesellschaft es uns nicht leicht macht, diese offen zuzugeben und unsere Meinung zu ändern, weil uns die Argumente anderer Menschen schlüssiger erscheinen. Deshalb bewundere ich Menschen immer sehr, die ihre Fehler auch offen gestehen und sich versuchen, zu bessern - das ist wahre Größe.
Wir sollten es eigentlich als selbstverständlich betrachten, einander zu unterstützen und zu helfen, bessere Menschen zu werden und unsere Fehlerkultur zu verbessern (am liebsten im Sinne von Raimund Popper und seiner Berufsethik). Das Problem dabei ist wohl, dass nach wie vor die Mentalität „Wenn du nicht für uns bist, dann bist du gegen uns“ vorherrscht. Es ist wichtig, dass wir diese Grenzen überwinden, die Werte außerhalb unseres Radius wahrnehmen und etwas mehr Empathie zeigen, selbst wenn wir denken, dass die Person das aufgrund ihrer Gesinnung überhaupt nicht verdient hat. Die Person ist nicht ohne Gründe so, wie sie heute ist. Und wir würden schließlich auch nicht wollen, dass andere auf diese Art und Weise mit uns umgehen würden. Kants kategorischer Imperativ macht hier keinen Halt.
Jonathan Decker meinte diesbezüglich auch, dass wir Menschen das geben sollen, was sie brauchen und nicht das, was sie in unseren Augen verdienen, um zu wachsen und stärkere Persönlichkeiten zu werden. Und das ist eben häufig ein offenes Ohr, Höflichkeit und ein Stück weit Verständnis.
Wie wichtig dieses Verhalten ist, zeigt mir beispielsweise die Lebensgeschichte von Nathan aus „Sex Education“. Er ist am Anfang der Serie für viele von uns wohl der typische Antagonist, der andere aufgrund ihrer Sexualität mobbt, der nicht der hellste Stern am Himmelszelt ist und im allgemeinen wenig Persönlichkeit außerhalb seines Mobberdaseins besitzt. Das ändert sich im Laufe der Serie, da dem Zuschauer gezeigt wird, wie sein tyrannischer Vater ihn zu der Person geformt hat, die er jetzt ist – voller Selbstzweifel und Selbsthass. Dazu kamen noch die Schwierigkeit, sich mit seiner Sexualität zu Identifizieren und der Gedanke, niemals Intelligent genug zu sein. Sicher würde an seiner Stelle nicht jeder so handeln wie er und doch kann man nicht bestreiten, dass es eine große Bürde ist, so aufzuwachsen und sein Gedankengut tagein, tagaus nur mit solchen negativen Gedanken und Erfahrungen zu füttern – deshalb gibt es dieses Profil nicht selten in unserer Gesellschaft. An diesem Druck zerbrechen Menschen. Doch es hilft ihnen ungemein, wenn sich jemand ihnen zuwendet. So war es auch bei Nathan. Und weitere Beispiele könnt ihr wie Sand am Meer finden.
Natürlich gibt es am Ende noch unzählige weitere Gründe, warum Menschen sich zu gewissen Themen in jener Form äußern – und ihr müsst diese Äußerungen definitiv nicht akzeptabel finden – doch der Ton macht die Musik und es schadet nicht, mit dem Hintergedanken das nächste Mal die Kommentarspalten zu besuchen oder ein Gespräch mit einer Person zu führen, deren Meinung ihr nicht teilt. Selbst wenn es euch Kräfte zehrend erscheint, können wir etwas Gutes bewirken, indem wir etwas mehr Verständnis und Offenheit zeigen, höflich reagieren, die Welt nicht nur in schwarz und weiß sehen und Aussagen sachlich falsifizieren.
Es macht das Leben schwer, zu verstehen, aus welchen Gründen und durch welche Einflüsse eine Person so geworden ist und sich dementsprechend äußert, und dabei gleichzeitig zu wissen, dass die Person zu einem falschen Schluss gelangt ist. Das bedeutet nicht, dass man die Ansichten gutheißen soll oder nicht versuchen darf, die Person von einem anderen Standpunkt überzeugen zu wollen, sondern dass man dabei höflich vorgeht und der Person das Gefühl gibt, wirklich gehört zu werden. Wir sollten nicht vergessen, dass hinter einer Aussage immer noch ein Mensch steht, den man in seiner ganzen Dialektik begreifen sollte.