Bewegte sich Faust, der verzweifelte Gelehrte und Hauptprotagonist Goethes gleichnamiger Werke, im ersten Band in der kleinbürgerlichen Welt, Lebensgenuss und Ausschweifungen suchend, so hat er jetzt die erste Stufe seiner Bewusstseinsentwicklung verlassen; er findet sich in der großen Welt der politischen, wirtschaftlichen sowie sozialen Interessen und Ränke wieder.
Dabei erscheint auch Mephisto in einer neuen Gestalt, da er nicht mehr den inneren Zweifler Fausts darstellt, sondern die geistige Verfassung der Massen. Er fungiert als Manipulationstalent, das Groß und Klein an der Nase herumzuführen vermag.
Um die Tragweite dieser Manipulation zu erkennen, finden wir uns gleich zu Anfang im „Saal des Thrones“ wieder, wo die „großen Köpfe“ des Landes zusammenkommen, um über Staatsangelegenheiten zu debattieren, wobei es „fieberhaft durchaus im Staate wütet, Und Übel sich in Übeln brütet“ (V 4780-4781). Dieser Paarreim in Kombination mit der Alliteration/ Wiederholung des Wortes verdeutlichen bereits, wie schlimm es ums Land bestellt ist.
So herrschen die perfekten Grundvoraussetzungen dafür, Zwist und Zwietracht zu streuen, wie es Mephistos ureigenstes Element und seine Daseinsaufgabe ist. So betritt er das Geschehen als der neue Hofnarr, den niemand wirklich ernst nimmt, obschon er und er alleine derjenige ist, der die Zügel in den Händen hält, um das Kommende nach seinen Vorstellungen zu formen.
Seine Fähigkeiten zeigen sich bereits an der Stelle, als die Geldnöte, die Staatsschulden ins Spiel gebracht werden. Durch geschickte Schmeicheleien manövriert er den Kaiser in sein Netz, worin er hilflos gefangen ist. Er preist den Glanz, den Ruhm der Majestät, lobt ihn gar in den Himmel. Um ihn seinen Plan gewogen zu machen und mögliche Bedenken beiseite zu wischen, stellt er die rhetorische Frage, was sich da zum Unheil vereinen könnte, „zur Finsternis, wo solche Sterne scheinen“ (V 4883-4878), da doch ein guter Wille, ein herausragender Verstand und Tatendrang vorhanden sei, der gestützt durch kräftige Hände dazu befähigt ist, Gold aus den „Bergesadern und Mauergründen“ (V 4894) zu schöpfen. Durch das Hendiadyoin soll veranschaulicht werden, in welch rauen Mengen man das Gold in der Erde antreffen kann, was wiederum dafür ausgelegt ist, Gier zu erwecken.
Dieser Vorschlag ist per se eine hervorragende Idee, da dies dem Reich aus seinen Staatschulden verhelfen, Leuten Arbeit geben und einen Mehrwert schaffen könnte, der sich auf alle auswirkt. So hätte Mephisto seine Manipulationsfähigkeiten für eine richtige Investition genutzt; da dies aber nicht im Sinne des Teufels ist, bringt er noch an, dass all dies durch „Begabten Manns Natur- und Geisteskraft“ (V 4896) geschafft werden kann, wobei diese eine Allusion für Magie darstellen sollen, welche Goethe aufs Tiefste verabscheut. Ebenso abgeneigt reagiert der Kanzler, wodurch sich Mephistos Scheinvorschlag als solchen entpuppt.
Das zeigt auf der einen Seite gut, dass man seine Überzeugungskraft für wichtige Ideen einsetzen kann, selbst wenn die Menschen die Bedeutsamkeit dessen nicht ganz erfassen, aber auch, dass sie sich von Worten einweben und vom Gegenteil überzeugen lassen können, selbst wenn die Idee an sich gut ist.
Deshalb lautet Mephistos niederschmetterndes Urteil am Ende der Szene, als er den Kaiser letztendlich davon überzeugt hat, den Wert des Goldes zu nutzen, ohne dieses jedoch aus dem Boden zu befördern, wie folgt:
„Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein;
Wenn Sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.“ (V 5061-5064)
Damit erteilt er den Menschen und ihrem Streben aufgrund von Dummheit und Faulheit eine Absage. Der Stein der Weisen dabei symbolisch für Geld/ Gold, das man aus diesem gewinnen kann – uns Menschen bleibt es verwehrt.
Was es für Gründe dafür gibt, dass uns dies verwehrt bleibt, zeigt Goethe uns in der darauffolgenden Szene „Weitläufiger Saal“, in der die Menschen sich freudig erregt auf den Karneval vorbereiten. Dazu schrieb Goethe: „Der Unterschied zwischen Hohen und Niederen scheint einen Augenblick aufgehoben: alles nähert sich einander […] und die wechselseitige Frechheit und Freiheit wird durch eine allgemeine Laune im Gleichgewicht erhalten.“ In diesen Zeilen klingt bereits die Abneigung gegenüber der Bevölkerung und solchen Possenspielen mit, was vor allem durch die Alliteration „Frechheit und Freiheit“ verdeutlicht wird, da er diese auf eine Stufe stellt und somit das Treiben der Leute kritisiert.
Durch die verschiedenen Figuren schafft der Autor Allegorien, welche ein Welttheater aufzeigen. Dieses nutzt er, um uns typische Verhaltensmuster, die Affekte der Menschen in ihrem Naturzustand zu offenbaren.
Durch die Gärtnerinnen, benannt nach unterschiedlichen Pflanzen, zeigt Goethe den Stereotyp einer Frau auf, die nur gefallen und „niedlich […] anzuschauen“ (V 5104) sein will. Frauen, die nur darauf warten, von Männern (in dem Fall: Gärtner und Herold) gepflückt zu werden. Menschen lassen sich zu leicht von Schönheit (das Motiv lässt sich später auch in der Helena wiederfinden) blenden, von Verführungen sexueller Art ablenken. Das lässt sich auch bei der Mutter wiederfinden, die ihre Tochter geradezu leichtherzig feilbietet. Sie „Dachte [sie] sogleich als Braut, Gleich dem Reichsten angetraut“ (V 5182-5183), wobei der Paarreim eine Harmonie vorgaukelt, die im Kontrast zu dieser Situation steht. Die Mutter lässt sich dabei noch zusätzlich von Geld verführen, ohne die Meinung ihrer Tochter einzuholen. Dies zeigt recht deutlich, wie (Status)Symbole uns in unserem Handeln lenken, gar manipulieren.
So etwas kann ganz einfach von den wichtigen Dingen im Leben ablenken. Eben solch eine dazu führende Ablenkung stellt auch der „täppisch[e], fast läppisch[e]“ (V 5214) Clown Pulcinelle dar, da er Menschen erheitert, bespaßt, ohne direkt einen weiteren Mehrwert zu liefern. So verliert man sich in Reimen wie „Kappen“ und „Lappen“ (V 5219-5220) oder „müßig“ und „Pantoffelfüßig“ (V 5223-5224), doch inhaltlich ist alles Schall und Rauch, von den man sich einlullen lässt. Das gilt nicht nur für die einfachen Leute, sondern ebenso für diejenigen, welche dort das Sagen haben.
Durch die ganzen Schauspiele verzückt und durch die Komplimente den Kopf verrückt, sieht sich der Kaiser in der Szene „Lustgarten“ mit einer folgenreichen Entscheidung konfrontiert. Auch hier wird dabei wieder deutlich, dass eigentlich Mephisto derjenige mit den Fäden in der Hand ist. Um seinen Willen zu bekommen, hält er den Kaiser mit dem „Flammenspiel“ bei Laune, schmiert ihm Honig um das Maul, indem er hyperbolisch meint, dass „jedes Element Die Majestät als unbedingt erkennt.“ (V 6003-6004) So verliert der Kaiser nach und nach den Bezug zur Realität, meint gar, Mephisto stamme „aus Tausendeiner Nacht“ (V 6032), also aus einer Geschichte, die unzählige Schätze verspricht.
Wie weit dieser in seiner Gedankenwelt bereits abgedriftet ist, wird dadurch dadurch nochmals verdeutlicht, als der Kanzler herantritt, um die neuesten Informationen zum „schicksalsschwere[n] Blatt, Das alles Weh in Wohl verwandelt hat“ (V 6055-6056), zu verkünden. Dabei hebt er den Wert des Papiergeldes in den Himmel, obwohl das Gegenteil der Fall ist, was durch die Alliteration „Weh“ und „Wohl“ kenntlich gemacht wird, da beides eng miteinander verknüpft ist. Der Kaiser kann daraufhin nicht fassen, dass diese Papiere in seinem Namen in der Öffentlichkeit kursieren, obschon er sie erst in der heutigen Nacht unterschrieben hatte.
Dabei ging es ihm allerdings nicht einmal um das Geld an sich und die Folgen dessen: nämlich dass ein ökonomisches Ungleichgewicht entsteht. Nein, es geht ihm wiederholt nur um den Schein, um seinen Namen, seine Macht. Doch als er hört, „wie wohl´s dem Volke tat“ (V 6076), gab er nach und musste es gelten lassen (vgl. 6085). Und als Faust noch anmerkt, dass „Das Übermaß der Schätze […] in [s]einen Landen tief im Boden harrt“ (V 6111-6112) und nur die Grenzen der Phantasie einen davon abhalten, das Geld auszugeben, lenkt der Kaiser gänzlich ein und merkt an, dass das Reich ihnen das gesamte Wohl verdanke, da sie nun, wie sie es immer wollten, über ihre Verhältnisse leben können, ohne Sinn und Verstand.
Das zeigt deutlich, wie die Macht Mephistos zum einen auf der Dummheit der Bevölkerung und vor allem auf der des Kaisers beruht, wie schmeichelnde Worte uns in Richtungen lenken, die, einst als begehrenswertes Ziel gedacht, sich im Nachhinein als Fehler entpuppen und Mensch in den Ruin treiben können. Nur diejenigen, die wirklich nachdenken und sich nicht vom Luziferischen mitreißen lassen, so wie es der Narr mit dem Anschaffen von Gütern und dem Beobachten der Geschehnisse tat, werden überdauern.
Somit hat Goethe bereits allein mit dem ersten Akt ein gesellschaftliches Panorama geschaffen, das sich hervorragend auf seine Gesellschaft und ebenso auf die unsere projizieren lässt. Er blickt unter die Oberfläche und durchdringt mit seinem scharfsichtigen Blick viele Ebenen des Seins, weshalb man ihn dafür nur äußerst hoch schätzen kann.