Obschon man meinen sollte, dass sich die Probleme auf zwischenmenschlicher, emotionaler und politischer Ebene im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende geändert haben, spielt uns Georg Büchner mit seinem „Lustspiel“ „Leonce und Lena“ ein altes Lied, das wohl immer neu bleiben wird. Zwar wurde das Stück vor etwa 200 Jahren geschrieben, doch ist es noch immer aktuell.

Es handelt von dem königlichen Leonce, der in eine privilegierte sowie machtvolle Position hineingeboren wurde und darauf vorbereitet werden soll, eines Tages dem ins Chaos gestürzten Königreich „Popo“ aus seinen Trümmern heraus zu neuem Glanz zu verhelfen. Und das soll an der Seite von Prinzessin Lena aus dem Königreich „Pipi“, die eine ebenso große Abneigung und Leere gegenüber dem Regieren und Heiraten empfindet wie Leonce, geschehen.

Durch Zufälle, geheime Pläne und nach einer langen Reise finden sich die beiden letztendlich doch vor dem Altar wieder, unwissend, wen sie soeben ehelichen; ihre Hände fanden sich von selbst und wurden nicht gewaltvoll mit Hammer und Nagel zusammengeschlagen.

Doch der Effekt bleibt nahezu der gleiche, da sie sich der Aufgabe gegenüberstehen sehen, zwei Königreiche zu regieren – obwohl sie aufgrund all der Jahre des Nichts-tuens und der Langeweile krank geworden und nicht mehr dazu in der Lage sind, dem Leben einen Sinn zu geben wie es sich bereits das gesamte Werk über abzeichnet. Ob sie nun die Länder trotz dessen verantwortungsbewusst regieren werden oder sich wieder ihrer nihilistischen Weltanschauung hingeben, offenbart der Schlussmonolog.

Darin spricht Leonce zunächst zu den Anwesenden, Höflingen und den Bediensteten, und drückt sein Bedauern darüber aus, dass diese „so lange zu Diensten gestanden“ haben, womit er wohl auch das Possenspiel und die Heirat meint, welche nicht so ausgegangen ist, wie gewollt, da er schlussendlich doch über das Volk herrschen soll. Weiterhin führt er aus, dass er um deren Lage Bescheid weiß und ihre Stellung als äußerst traurig empfindet, da unter seines Vaters Herrschaft nichts in normalen und geordneten Bahnen verlief. So könnte man annehmen, dass Leonce tatsächlich etwas ändern will, schließlich verspürt er gegenüber dem Treiben Abneigung und spricht nicht nur von sich selbst, sondern auch von dem Schicksal der anderen

Diese Aussagen macht er jedoch mit dem darauffolgenden Satz zunichte, sodass diese als komplette Antithese erscheint. Denn er befiehlt den Anwesenden, „ihre Reden, Predigten und Verse nicht“ zu vergessen, damit sie am kommenden Tag so weiter machen können wie bisher; er will in vollkommener „Ruhe und Gemütlichkeit den Spaß“ seines Vaters fortführen. Die aufgeführte Akkumulation und das Hendiadyoin verdeutlichen dabei nochmals die Gleichförmigkeit und Beständigkeit des Regimes, welches aufrecht erhalten werden soll.

Insbesondere zeigt es dem Leser, dass Leonce nicht das Geringste aus seiner Italien-Reise und der Zeit als Lazaroni gelernt hat. Noch immer dreht sich die Welt nur um ihn selbst – er fragt nicht einmal seine Gemahlin nach ihren Ansichten und Wünschen – und er scheut sich davor, alles in seiner Macht stehende zu tun, um der Bevölkerung zu helfen, obwohl er das Weltgeschehen vermeintlich durchschaut hat; die Sinnlosigkeit hat ihn gleich einer Depression fest im Griff.

Dieser Umstand tritt noch klarer zu Tage, als die anderen sich entfernen und nur noch er selbst zusammen mit Valerio, Lena und ihrer Gouvernante zurück bleibt. Daraufhin fragt er an sie gewandt, was er mit seinen Untergebenen anfangen soll, wobei er diese als „Puppen und Spielzeuge“ bezeichnet, was seine Gleichmut und in gewisser Weise seine Leichtsinnigkeit stark unterstreicht und zeigt, wie wenig er von seinem Volk halten kann, da er ihnen alles menschliche abspricht, mit ihnen spielt. Wie leichtfertig er mit deren Leben umgeht, zeigt weiterhin die zweite rhetorische Frage, auf welche er keine Antwort verlangt, da er zu eingenommen von sich selbst ist: Leonce überlegt, ob er aus den Männern Aristokraten und einfache Bürger machen soll, wofür das Sinnbild des „Schnurrbartes“ steht, oder ob er sie in den Krieg schicken soll, womit er das Anhängen der Säbel meint. Damit spricht Büchner die großen politischen und gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit an und übt Kritik an der Obrigkeit aus.

Zwar könnte man den Ansatz Leonces, „infusorische Politik und Diplomatie“ zu betreiben, was auch ausdrückt, dass er durchaus intelligent ist und etwas von der Materie versteht, als positiv bewerten, da es dem Volke zugute kommen würde und er sich aus seinem passiven Dasein reißen, nach seinem Übermenschen streben würde, doch diese Überlegungen macht er mit der nächsten Frage zunichte.

Stattdessen flieht er wieder in den Hedonismus, in den Genuss und leichten Zeitvertreib, sodass erneut ein starker Kontrast entsteht. Er fragt, ob sie eine Drehorgel mit „milchweiße[n] ästhetische[n] Spitzmäuse[n]“ wünscht, wobei er eine Ellipse verwendet, welche die Verdrehtheit der Situation unterstützt. Und die Frage nach dem Bau eines Theaters stellt die Krönung dar, weil sie sich bereits so aufführen, als wären sie in einem, als ginge sie alles nichts an.

Daraufhin kann sich Lena nur entkräftet an ihn lehnen und mit dem Kopf schütteln, was wohl mehrere Gründe hat. Diese Bewegung zeigt nicht nur, dass sie gegen seine Vorschläge ist, womöglich das Gefühl hat, sich in ihm getäuscht zu haben, fassungslos und wie erschlagen, sondern auch, dass sie nicht glauben kann, wieder in dieser Lage zu stecken, und wahrscheinlich selbst nicht weiß, was zu tun ist; sie fühlt sich hilflos wie ein Kind.

Leonce deutet ihr Kopfschütteln wohl als Verneinung, da er beginnt, aufzuzählen, wie das ideale Leben für Lena aussehen möge, wobei er vollkommen verkennt, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Es zeigt lediglich wieder seine innere Leere, Antriebslosigkeit und das nihilistische Weltbild, in dem er gefangen ist.

So schlägt er vor, „alle Uhren zerschlagen“ zu lassen, womit gemeint ist, dass sie die Zeit verschleudern und keine Verantwortung übernehmen sollen; auch die Kalender stehen für dieses Motiv. Stattdessen will er zurück in die Natur und sich nur nach der „Blumenuhr, nur nach Blüthe und Frucht“, also dem Lauf der Jahreszeiten richten. Was anfangs natürlich erscheinen mag, da der Mensch seit jeher ins Freie geht, um einen klaren Kopf zu bekommen und er selbst zu sein, wird dadurch verklärt, dass er den Zustand des ewigen Sommers auf unnatürliche Art und Weise erhalten will: Durch Brennspiegel, was auf kurz oder lang nicht fruchten wird. Das und die italienische Insel „Ischia“ können eine Anspielung auf Leonces Zeit in Italien sein und somit auf sein Verständnis darüber, wer Lazaronis sind und wie ihr Tagewerk aussieht – denn entgegen der gängigen Ansicht, sie seien faule Tagelöhner, sind diese durchaus betriebsame Menschen. Leonce hat die Nord-Süd-Differenz nicht verstanden, geschweige denn die Lebensphilosophie der Lazaroni.

Er möchte sich an Stelle dessen vor dem Winter, welcher für Leonce zudem eine Metapher des Schmerzes, der Mühe und des Weltgeschehens ist, verstecken und „das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeeren“ verbringen. In der Hinsicht können die Rosen als ein Symbol der Liebe und die Lorbeeren als eines des Erfolg und des göttlichen Lebens sein.

Mit seinen Ideen, geblümten Ausdrücken und umschweifenden, positiven Ausführungen verkleidet er eine Dystopie in einem utopischen Gewandt. Doch obwohl er ein vermeintlich leichtes, verantwortungsloses Leben zeichnet, drückt die Satzstruktur etwas vollkommen anderes aus, da vorrangig Hypotaxen verwendet werden, was darauf hindeutet, dass ihm der Kopf bald platzt, ihm unzählige Gedanken hindurch schwirren und er nahe am Verzweifeln ist.

Ob er seine passive, Werte und Normen verneinende Politik auch in dieser Form umsetzen wird und somit das Reich noch weiter in den Ruin treibt, ob Lena ihn zum Umdenken bewegt oder nicht, ob andere Faktoren ihnen eine neue Sicht offenbaren und sie aus ihrer Lethargie reißen werden oder eben nicht, bleibt offen. Doch Herr Büchner hat mit dem Ende genau das erreicht, was er beabsichtigte: Eine Abwehrreaktion gegenüber solcher Teilnahms- und Interesselosigkeit. Er wollte dem Leser deutlich machen, dass aufgeben keine Option ist und wir jeden Moment den Messias in unsere Welt lassen können, indem wir uns selbst für andere einsetzen und nach unserem besseren Ich streben, danach greifen. Wir müssen unser Leben ändern.

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