Carpe diem - Martin Opitz Interpretation
Leben ist endlich; das unsere dauert nur eine Nanosekunde an, blickt man dem Zahn der Zeit ins Angesicht; wir sind ein winziger aufblitzender Funke, der beizeiten erlischt. Memento mori - Gedenke, dass du sterblich bist. Und da Zeit als so kostbares Gut, eine für die Einzelperson versiegende Ressource darstellt, versucht man, den Tag so intensiv wie möglich zu nutzen, schließlich erhofft man sich, alles Schönes vom Leben mitnehmen zu können und dieses in vollen Zügen zu genießen. Ganz im Sinne von Carpe diem. Eben jenes Grundmotiv kann man zunächst in Martin Opiz' gleichnamigen Gedicht, welches 1624, zur Zeit des Barock, erschien, wiederfinden: Lebensbejahung, Ausschweifung, Genuss, Hedonismus.
Nun liegt es aber nicht in der Natur des Lebens, pure Freude zu spenden, unumschränktes Glück. Manchmal kommt es uns in die Quere, durchkreuzt unsere Wege und hinterlässt nichts als den nachhallenden Wunsch, bessere Zeiten würden anbrechen. Manchmal dient das Streben nach Erfüllung, Ablenkung nur dazu, die innere Leere zu füllen, dem Schmerz kurzzeitig zu entfliehen. Doch er ist immer gegenwärtig, lässt einen bitteren Nachgeschmack zurück. Diese beißende Süße findet man auch in Opitz' Gedicht wieder, setzt man sich tiefgründiger mit diesem auseinander.
Eine Tätigkeit, die von vielen Schülern oftmals als Zeitverschwendung angesehen wird, ist das ganztägige Lernen, die Beschäftigung mit verstaubten Büchern in dunklen Zimmern Stunde um Stunde, fern von der Sonne. Eben dorthin schweifen auch die Gedanken des lyrische Ich, welches die Gedankenwelt des Autors widerspiegelt, hinter dessen Beweggründe jedoch nicht das Jugendliche Desinteresse steht. Es empfindet "fast ein Grauen" (V. 1), dass "Plato", welcher als Studiengegenstand verstanden werden soll und eine Allegorie für Platons Lehre über den Tod des Menschen und die Rückkehr der Seele sowie des Körpers in den Kosmos darstellt, sein ganzes Leben bestimmt, über dem lyrische Ich sitzt (vgl.). Da zu der Zeit, als "Carpe diem" erscheint, der 30-jährige Krieg bereits 6 Jahre wütete, möchte das lyrische Ich nicht an das kommende Ende denken, den Tod im Blick, ihn als Freund betrachtend. Sehr wahrscheinlich ist die Annahme auch, dass das lyrische Ich sich zu der Zeit mit Platons Höhlengleichnis auseinandersetzte und nicht wahrhaben wollte, dass er in dieser Welt eigentlich nichts erkennen kann, dass ihm die objektive Wahrheit verborgen bleibt. Stattdessen sehnt es sich danach, hinaus in die Natur zu gehen, sich "bei den frischen Quellen in dem Grünen zu ergehn" (V 4-5), wobei die Enjambements ausdrücken, dass die Natur endlos in ihrem Fortbestand ist. Außerdem stellt sie etwas reales, greifbares dar; das lyrische Ich kann die "frischen Quellen" (V. 4) spüren und hören, "die schönen Blumen" und "die Fischer Netze stellen" (V. 8) sehen.
Die Natur, Genuss, Ausschweifung stellen für ihn die einzige Option dar, richtig zu leben, weshalb das Gedicht insofern lebensbejahend ist. Er hat den Sinn im Studieren verloren und versucht diesen im Freien wiederzufinden, was ganz dem Faustmotiv entspricht - ein Studierter, ein Gelehrter, der erkennen muss, dass er nichts wissen kann, dass all die Jahre voller Mühe und Arbeit nichts "als zu lauter Ungemach" (V. 10) gewesen ist, weswegen er sich in die Natur begibt. Wohlgemerkt ist Goethes Faust zu dieser noch nicht geschrieben worden.
Faust war, als er zu dieser Feststellung gelangte, im betagten Alter angelangt - ebenso könnte man es in Carpe diem sehen: Herr Opitz beschreibt durch sein lyrisches Ich, dass unser Leben sich viel früher dem "letzten Ende hin" (V. 14) neigt, was als Euphemismus dargestellt wird und die Schrecken des Todes abschwächen, eine Distanz dazu aufbauen soll, als dass wir wirklich gelernt haben, was Leben eigentlich bedeutet. Nun war der Dichter zu dem Zeitpunkt erst 27, weshalb sich erneut die Verbindung zum Krieg ziehen lässt - zu dieser Zeit musst Jung und Alt um das eigene Leben fürchten; Tod und Schrecken waren ein ständiger Begleiter, was insofern das barocke Vanitas-Motiv verdeutlicht – sich seiner Sterblichkeit bewusst sein. Bis der Tod Eintritt und die Menschen unter der Erde landen, "ohne Geist und Sinn", wie Herr Opitz verstärkt durch das Hendiadyoin sein Unverständnis über diese (sinnlosen) Tode ausdrückt, wobei allerdings ebenfalls die Deutungshypothese möglich ist, der Menschen stürbe am Ende des Lebensflusses und liegt als leere Hülle unter der Erde, ohne dass ihm sein Wissen irgendetwas gebracht hat.
Um diesen Gedanken zu entfliehen, verlangt das lyrische Ich nach dem besten Wein. Damit möchte es vorerst "Alles Traure[...], Leid und Klage" (V. 20) betäuben, was nicht nur eine Akkumulation, sondern auch eine Klimax darstellt, die nachdrücklich all die Pein, den Schmerz, welchen der Mensch erfährt, verdeutlicht und aufzeigt, dass es immer schlimmer wird. Je länger der Krieg andauert, desto mutloser und verzweifelter werden die Menschen.
In der Hinsicht gibt das lyrische Ich Clotho, eine der drei Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden aller spinnt, indirekt die Schuld an allem Übel. Es meint, dass sie die Menschen fortrafft, ihnen ein elendes Los zuteilt, welches sie zugrunde richtet. Ansonsten hätte er Atropos, die den Lebensfaden abschneidet, die Schuld geben müssen - doch das tut er nicht.
So vergräbt er sich im Wein, wobei das Trinken nicht direkt einen genussvollen Konsum, sondern Verzweiflungstrinken meint; der "süße Saft" (V. 23) der Traube lässt ihm kurzzeitig freier atmen; doch wenn der Leser weiter denkt und den Zustand der Ernüchterung nach dem Rausch vor Augen hat, wird ihm klar, dass im Nachhinein nichts besser geworden ist, nur noch mehr Schmerz auf das lyrische Ich einstürzt, welches sich die Zeit über angestaut hat.
Die Imperative "Junger, geh und frage" (V. 17) sowie "kaufe gleichfalls (...) und vergiss (...) nicht " (V. 26-27) kann ebenso der Leser als Aufforderung an sich selbst verstehen - er solle sein Leben genießen und alles, was es zu bieten hat, schließlich lässt sich viele Übel einfacher mit vollem Magen sowie Alkohol ertragen. Wenn man das jedoch auf diese Zeit bezieht, ist die Aussage recht bitter sowie ironisch angehaucht, weil nur ein winzig kleiner Bruchteil finanziell dazu in der Lage war, sich Melonen, die importiert werden mussten, mit Zucker sowie Alkohol zu leisten - insbesondere nach den harten Kriegsjahren. Fast niemand konnte täglich derlei Genüssen frönen, wodurch nur noch Wunschdenken übrig bleibt. Auf der anderen Seite sahen diejenigen, welche es sich leisten konnten, keinen Anlass, den "Heller [zu] schonen", ihr Gold und die Schätze aufzubewahren, weil sie ebenfalls in der nächsten Zeit sterben könnten. Was brächte es diesen Adeligen schließlich, die reichsten Person auf dem Friedhof zu sein? Deshalb will das lyrische Ich, "weil [es] kann, [s]ich letzen!" (V. 32)
Da feiern, das Genießen des Lebens mit Leuten, die einem wichtig sind, am meisten Freude bereitet, und angesichts dessen, dass der Tod jede Sekunde eintreffen könnte, ruft das lyrische Ich letztendlich dazu auf, seine "guten Brüder" (V. 33) mögen mit ihm die Musik "und ein Glas" (V. 34) genießen. Durch die Klimax "schickt sich, dünkt mich, baßt" wird sein gefallen an den Genussmittel und Liedern nochmals verstärkt, wodurch die ersten vier Verse der fünften Zeile erneut eher heiter angestimmt sind. Doch das ändert sich in den letzten Versen und die Intention des Gedichtes wird dem Leser ersichtlicher, animiert ihn dazu, die Strophen nochmals gründlicher zu lesen.
Herr Opitz schreibt, dass, obwohl das lyrische Ich zusammen „mit anderen lustig sein“ (V. 39) will, trotzdem alleine sterben wird und das nicht in ferner Zukunft, sondern „gleich“. Trotz all der künstlichen oder minder künstlichen Freuden, all dem Prunk und der Gloria, sieht es sich mit dem Totenkopf und wofür er steht konfrontiert. Diese Ausschweifungen und der Hedonismus ändern letztendlich nichts an der Ausgangssituation, worin letztendlich die traurige Wahrheit liegt.
Insofern kann dieses Gedicht ebenfalls in unsere Zeit projiziert werden – der Verlust des Lebenssinns, auf der Suche nach Erfüllung, welche letztendlich nur durch Genussmittel erreicht werden kann, einen hohlen Klang besitzend, einen schalen Nachgeschmack hinterlassend und immer mehr fordernd. Das kann ebenfalls auf Menschen zutreffen, die schwere Zeiten hinter sich haben, nur ist das nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, weshalb man auch unter die Oberfläche schauen sollte.