Interpretation Kabale und Liebe – Friedrich Schiller, V;1 S.95- 97 Z. 21 (Reclam)
Obwohl Selbstmord (oder auch Freitod) heutzutage noch ein unliebsamer Gast, nicht gern vernommen und in manchen Kreisen verpönt ist, steigt die Rate an Toten jährlich an. Mittlerweile wird weltweit auch heiß debattiert, ob in gewissen Fällen nicht eine Freigabe der Sterbehilfe durch Ärzte in Kraft treten soll. In Ländern wie der Schweiz gibt es bereits solche Einrichtungen, die Menschen legal von ihren Leiden erlösen können. Da diese Maßnahme jedoch nur in Extremfällen gestattet wird, legen viele Menschen auch selbst Hand an sich, um der Agonie, ihren Depressionen zu entfliehen. In Deutschland waren es im Jahr 2012 nach den Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 99000 Menschen, die unter ihrer Last zusammenbrachen, kapitulierten und ihrem Leben ein Ende setzten. Weltweit sind es 800000 Personen jährlich. Was sie dazu getrieben hat, können wir nur vermuten. Jeder reagiert anders auf äußere Einflüsse, nimmt Situationen anders wahr, besitzt eigene Erfahrungen. Und noch so viel mehr müssen sich mit ihrem Päckchen abmühen. Wie Shakespeares Antonio sagt: „Mir gilt die Welt nur wie die Welt (…): Ein Schauplatz, wo man eine Rolle spielt, Und mein‘ ist traurig.“
Um diese Last nicht alleine schultern zu müssen, können die mental Erkrankten in diesem Zeitalter zusätzlich auf die Hilfe von Psychologen und Medikamenten zurückgreifen. Ihre Angehörigen haben eine nicht mehr ganz so große Verantwortung, nicht mehr ganz so viel Druck zu meistern. Diese zusätzliche Hilfemaßnahmen waren im letzten Jahrhundert noch schwer vorstellbar. Und noch viel weniger am Ende des 18. Jahrhunderts, in dem das Drama „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller spielt.
Die Menschen zu dieser Zeit waren weitestgehend noch intensiv in ihre Glaubensgebote vertieft, an Gottes Worte gebunden, weshalb Selbstmord/ Freitod ein Sakrileg, selbst der Gedanke daran nahezu Blasphemie wäre. Luise Miller jedoch kämpft verbissen mit ihren inneren Dämonen und den Umständen, die ihr diese Gedanken in den Kopf setzten.
„Einem Liebhaber, der den Vater zur Hilfe ruft, trau ich – erlauben Sie – keine hohle Haselnuss zu.“ So weist Miller, Luises Vater, den schmierigen, heimtückischen Anwerber Wurm zurück, als dieser bei ihm vorspricht, um Luises Hand zu erbitten. Und das kam Luise sehr recht, schließlich vergab sie ihr Herz bereits an Ferdinand, der genau nach dieser Devise den Vater übergeht und sofort anfängt um Luise zu werben. Seine Ausstrahlung strotzt vor Selbstvertrauen, seinen Willen weiß er durchzusetzen, er nimmt sich, was ihm beliebt, aber es gibt eine Sache, die seine Welt und ihn zerstören könnte: Er „fürchte nichts – nichts – als die Grenzen [ihrer] Liebe“. Und da ihr Herz für ihn entflammt ist, schnell und gefühlvoll für ihn schlägt, sollte der Vereinigung nichts im Weg stehen.
Doch sie leben im falschen Jahrhundert, sind Standeszwängen unterworfen und haben ihren Vätern Rechenschaft abzulegen, ihnen zu gehorchen. Wie dem Präsidenten Ferdinands Verbindung zuwider ist, hält auch Miller nicht ein Stück mehr davon. Ein Dorn im Auge, der nicht zu tolerieren ist. Weiß sich Miller nicht zu helfen, bar jeglicher Unterstützung, besitzt der Präsident einen eifrigen Komplizen Namens Wurm, der eilfertig die Fäden in die Hand nimmt, um eine Intrige zu spinnen und Luise in dessen Netz einzufangen. Sich seinem Begehren hingebend, setzt Wurm alles daran, Luise nach der Verschmähung doch noch sein Eigen nennen zu können. Dem Präsidenten ist es recht, denn sein Bestreben liegt darin, Ferdinand zu zwingen, die Hand Lady Milfords zu ergreifen, wodurch der Präsident seinen Einfluss auf den Fürsten ausdehnen und somit die eigene Macht erweitern kann.
Deshalb werden den beiden Liebenden immer wieder Steine in den Weg gelegt und Fallen gestellt, bis Luise letztendlich in eine hinein tappt, unausweichlich, ohne eigenes Zutun. Ihre Familie wird in Gewahrsam genommen, die Zunge gebunden, sie vor die Wahl gestellt: Entweder Ferdinand oder ihre Eltern. So stürzt alles aufs Neue über sie herein, die Gründe, weshalb den Geliebten keine Zukunft gegönnt ist, der Frevel, den sie mit ihrer Liebe begeht, den Verlust, die Trennung, die sie selbst zuvor schon durchgeführt hat. Ferdinand war nicht länger der Ihre, und nun muss sie ihn ein weiteres Mal verlieren, doch dieses Mal dadurch, dass sie sich selbst verleugnet. Aber ihrem Vater, ihrer Mutter ist sie verpflichtet, sie liebt Beide innigst, weshalb sie sich dazu durchringt, den Brief an Hofmarschall von Kalb zu schreiben, der sie als angebliche Betrügerin und leichtes Mädchen entlarven soll. So werden die Liebenden immer weiter entzweit und Luise kann kein gar nichts dagegen unternehmen, das ihr Schwur sie bindet. Luise ist gefangen in ihrer eigenen Hölle, aus der sie nicht einmal das Triumphieren über Lady Milford reißen kann, sieht sie doch nur umso mehr, dass Ferdinand trotz allem im Diesseits für sie unantastbar ist. Und so gelangen wir zum Akt V, Szene 1 des bürgerlichen Trauerspiels, dem Beginn der kolossalen Katastrophe, die nur zu deutlich aufzeigt, dass „niemand (…) eine Insel ist, ganz für sich allein.“ (John Donne)
Luise „sitzt stumm und ohne sich zu rühren in dem finstersten Winkel des Zimmers“, verzweifelt und hoffnungslos vor sich hin brütend, während ein Plan in ihr reift, der ebenso dunkel und finster ist wie die Umgebung, in der sie sich befindet. Durch das Eintreffen Millers, der aus dem Gewahrsam entlassen wurde, wird sie in ihren Gedankengängen unterbrochen. „Mit einer Handlaterne leuchtet er ängstlich im Zimmer herum, ohne Luisen zu bemerken“, sodass diese die Chance hat, ihrem entmutigten, vom Gram gebeugten Vater bei dessem Monolog zu lauschen. „Durch alle Gassen [sei er] gezogen, bei allen Bekannten“ gewesen, sich bei allen Stadttoren nach ihr erkundigt – keiner konnte ihm eine hilfreiche Antwort liefern. Er glaubt, sie habe ihn für Ferdinand verlassen, was ein herber Schlag für ihn wäre. Wiederholt ruft er „Gott! Gott!“ an, befürchtet, die harte Strafe nicht ertragen zu können, weil „[s]ein Herz zu abgöttisch an diese[r] Tochter hing.“ Deshalb setzt er seine ganzen Hoffnungen auf den nächsten Morgen, erhofft sich sehnlichst, dass das Ausbleiben von Nachrichten der Stadttore bedeutet, sie noch nicht verloren zu haben. Er will sie nicht loslassen.
Da meldet sich Luise „aus dem Winkel“ und gibt ihm in seinen Befürchtungen recht. Er soll „beizeit noch verlieren“ lernen. Aber auf eine andere Weise, als er zunächst denken mag. Behänd springt der „arme(..) alte(…) Mann von seinem Stuhl auf, wendet sich gen Tochter und fragt ganz außer sich, ob sie wirklich da sei und “warum denn so einsam und ohne Licht“. Luise aber behauptet, dass die Dunkelheit, das Schwarze um sie herum, genau das sei, was sie sich wünscht, was ihr hilft. Ihrem Vater schwant Böses, weshalb er sie auf ihren Glauben beruft. Weiterhin führt er aus, dass nur „Sünden und böse Geister (…) das Licht“ scheuen, was so viel bedeutet, als dass Selbstmord ein Frevel angesichts Gottes sei, den sie als Christin nicht begehen dürfe. „Gott bewahre dich!“, ruft Miller entsetzt aus, versucht ihr Glauben zu schenken, doch Luise meint, dass dies auch die Ewigkeit tun würde. Der Tod befreie sie, ihm könne sie alles anvertrauen, da „er mit der Seele ohne Gehilfen redet.“ Sie wäre nicht mehr an ihren Eid gebunden.
Obwohl ihr Plan eine große Reichweite, ein durchdringendes Ende besitzen würde, bringt sie all das ruhig hervor, resigniert, anscheinend von innerer Leere gefüllt. Aber unter der glatten Oberfläche brodelt es. Auch das Gemüt des Vaters befindet sich in heller Aufruhr, was durch die vielen Interjektionen verdeutlicht wird, er ruft bestürzt „Kind! Kind!“, drückt damit aus, dass sie noch jung, nicht alles verloren, wie wichtig ihm sein kleines Mädchen ist. Er versteht ihre innere Gemütsverfassung nicht, will wissen, was das für Reden seien. Gleichzeitig fürchtet er sich auch vor ihrer Antwort, die prompt folgt.
Luise erhebt sich aus ihrer düsteren Ecke und tritt ins Licht, um ihr Ansinnen deutlicher, nachdrücklicher vorbringen zu können, um ihm zu beweisen, dass der Tod auch gutes mit sich bringt, sie nicht von bösen Geistern beseelt und der Sünde verfallen ist. Sie offenbart Miller, „einen harten Kampf gekämpft“ zu haben, dessen Ausgang nun entschieden ist. Sie hat verloren. Auch Gottes Kraft und Liebe genügen nicht mehr. Sie fährt fort, dass Frauen nicht zart und zerbrechlich seien, wie stets angenommen wird, denn „sie drücken „das schwarze Ungeheuer Verwesung (…) im Spaß in die Arme.“ Womit sie aussagen möchte, die Scheu vor dem Tod verloren zu haben, sie ist bereit, zum Äußersten zu gehen, weil er das kleinere Übel ist. Dennoch klingt leichte Hysterie in ihren Worten mit, als sie ihrem Vater weismachen will, sie scherze. Das letzte, was sie möchte, ist, ihn zu beunruhigen, denn sie liebt ihn innigst, gleichzeitig sehnt sie sich nach starken Armen, die sie festhalten, weshalb sie diese Andeutungen fallen lässt. Ihr Vater gehört zu einen der wenigen Personen, die ihr noch geblieben sind. Deshalb besitzt er auch die Macht, Luise von ihrem Vorhaben abzubringen. Nur als sie anfangs ihren anruft, brechen sich ihre Emotionen Bahn, was durch die Interjektionen verdeutlicht wird
Miller jedoch ist zu aufgewühlt und weiß nichts mit sich anzufangen. Er wünscht, sie heule, so würde sie ihm besser gefallen, mit dieser Reaktion könne er umgehen, schließlich bestände danach die Chance, dass alles wieder besser wird. Doch Luise so dermaßen zerstört und bar jeglicher Hoffnung stehen zu sehen, gibt ihm den Rest.
Langsam wiegeln sich nun auch Luises Emotionen auf und gelangen an die Oberfläche, ihr Blut kocht, sie wütet gegen den Präsidenten, will „den Tyrannen betrügenn“, „ihn überlisten“. Feurig begehrt sie auf, triumphiert über sie, weil der Präsident und Wurm lediglich dann „pfiffig [sind], solang sie es nur mit dem Kopf zu tun haben, aber sobald sie mit dem Herzen anbinden, werden die Bösewichte dumm“. Immer deutlicher treten nun Luises Absichten zutage. War sie zuvor ihren Pflichten treu ergeben, rational, besonnen und zukunftsorientiert, kämpfen sich dieses Mal ihre angestauten Gefühle in den Vordergrund, schließlich hat sie nichts mehr zu verlieren, denkt sie. Und somit hat sie auch einen Weg gefunden, ihren Schwur nicht zu brechen, Ferdinand aber trotzdem die Wahrheit zu offenbaren, denn „im Tode schmilzt auch der Sakramente eisernes Band. Ferdinand wird seine Luise kennen.“ Sie bittet ihren Vater, einen Brief zu überbringen, worin alles geschrieben steht. So vertieft und in Gedanken bei ihm, erwähnt sie Ferdinands Namen nicht, ist ganz überrascht davon, dass ihr Vater nicht sofort versteht, um wen es sich handelt, da sie nicht weiß, an wen sie sonst hätte schreiben sollen.
Unruhig von ihren Worten geworden; erbricht er den Brief. Luise davon völlig unbeeindruckt, lässt ihn gewähren, da „[e]r (…) nicht klug daraus werden“ würde. „Die Buchstaben liegen wie tote Leichname da, und leben nur Augen der Liebe“. Dieser Vergleich meint, dass nur Ferdinand die Bedeutung der Worte verstehen könne, da er ein elementarer Bestandteil des Geschehens ist und weiß, was passierte. Dennoch oder gerade deswegen beginnt ihr Vater den Brief zu lesen, worin sie schreibt, dass Ferdinand verraten worden sei, „ein Bubenstück ohne Beispiel“ den Bund ihrer Herzen zerriss. Sie fühlt sich über die Intriganten erhaben, verurteilt ihre zerstörerische, unreife Aktion. Weiter erklärt sie ihm, dass ein „schröcklicher Schwur [ihre] Zunge“ bindet, den sie aufgrund ihren bürgerlichen Werte- und Moralvorstellungen nicht brechen kann. Auch wenn sie ihm davon erzählen würde, hat sein Vater, der Präsident „überall seine Horcher gestellt“, die ihm sofort von dem Bruch ihres Eides berichten und Luises Eltern sogleich inhaftieren würden. Deshalb bietet sie ihm einen anderen Weg. Jetzt offenbart sich Luises letzter Teil des Plans, das letzte Puzzlestück setzt sich an die richtige Stelle und offenbart das gesamte Bild. Sie „weiß einen dritten Ort, wo kein Eidschwur mehr bindet, und wohin ihm kein Horcher geht.“
Miller unterbricht, „hält inne, und sieht ihr ernsthaft ins Gesicht“, will den Wahrheitsgehalt aus ihren Augen lesen, sehen, wie ernst es ihr damit ist. Sie bittet ihn, fertig zu lesen, damit er endlich den Brief überstellt, will nicht glauben, dass er etwas ahnt. So nimmt er also wieder das Lesen auf. Luise beschwört Ferdinand darin, Mut zu haben und auf „eine[r] finstre[n] Straße zu wandeln, wo [ihm] nichts leuchtet, als [s]eine Luise und Gott“. Sie kann ihm nichts anderes bieten als sich selbst und Glauben, hofft, dass ihm das reicht, um mit ihr zusammen zu sein. Wenn das der Fall ist, so schrieb sie weiter, solle er aufbrechen, „wenn die Glocke den zwölften Streich tut auf dem Karmeliterturm.“ Sie will sich gemeinsam mit ihm in die Tiefe stürzen, an einem Ort, wo sie ihrem Glauben am nächsten ist, einem Ort, an dem ihr die Forte zur Ewigkeit geöffnet wird. Einem Klostergebäude. Sollte er jedoch bangen, solle er ihrer Liebe den Rücken kehren, an dem Glauben festhalten, ein Mädchen [hätte ihn] zuschanden gemacht.“ Sie wäre die Sünderin ihrer Liebe gewesen, sie und sie allein.
Getroffen legt Miller das Billet nieder, versucht sich zu fassen und kann doch nur starr vor sich hin blicken, das Gesicht schmerzlich verzogen, nach einem Ausweg suchend. Aber er findet keinen, weshalb er mit gebrochener Stimme fragt, was dies für ein dritter Ort sei, gibt ihr noch einmal die Chance, ihre Worte zu überdenken, hofft inständig darauf. Er appelliert an ihre Verbundenheit, weist Luise daraufhin hin, dass sie seine Tochter ist. Luise bleibt dennoch selbstsicher und ruhig, sich an ihrem Rettungsseil festklammernd. Sie sehnt sich verzweifelt nach dem erlösenden Ende. Einem Ort, der „zum Finden gemalt“ ist. Sie weiß, dass Ferdinand ihn finden wird. Endlich vereint.