„Wenig aufrichtige Freunde“
Laut einer Umfrage des IfD Allensbach ist jeder vierte Deutsche der Meinung, Freundschaften seien ihnen heutzutage wichtiger als früher, und jeder fünfte gibt an, diese immer mehr zu pflegen. In dieser wird vor allem Wert auf Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Offenheit gelegt. Auf den ersten Blick erscheint dies als Selbstverständlichkeit. Was wäre das Leben schließlich ohne Freunde?
Weiterhin fand man per Umfrage heraus, dass an die 60 Millionen Menschen in Deutschland gute Freunde zu haben, als wichtig und erstrebenswert erachten. Und ein drittel von ihnen glauben an Freundschaften fürs Leben. All das könnte so einfach sein, schließlich leben wir in einer Zeit der Medialisierung, welche einen stetigen Kontakt garantiert, in einer Zeit, die uns zum Teil immer mehr Freiraum zugesteht. Es herrschen also eigentlich ideale Bedingungen für gute, starke und lange Freundschaften. Ein Großteil der Deutschen scheint es auch so zu sehen, doch es ist nicht die Wahrheit.
Die Forscher des Massachusetts Institut of Technology und der Universität Tel Aviv fanden heraus, dass knapp die Hälfte unserer vermeintlichen Freunde unsere Zuneigung nicht erwidern. Innerhalb der Studie gelangte man zur Ansicht, dass die meisten Menschen schlecht darin sind, Freundschaften richtig einzuschätzen oder das Wissen um das Scheitern von dieser verdrängen. Die Frage, welche der uns übrig gebliebenen Freundschaften auch wahrhaftig sind, war jetzt noch nicht mit einbezogen. Die meisten haben, wie es scheint, die hohen Tugenden und Ideale der Geistesverwandtschaft vergessen. Der billige Abklatsch dessen, welcher heute großteils existiert, ist nur ein Bruchteil von dem, was sein könnte. Und obwohl viele anderer Überzeugung sind, kommt es einem so vor, als würden die Meisten auch nichts anderes wollen. Zu der selben Auffassung gelangte ebenso Marie von Ebner-Eschenbach lange vor unserer Zeit; was bedeuten mag, dass dieses Problem nicht erst eine Erfindung unseres Jahrhunderts ist. Sie behauptete, dass es nur „wenig aufrichtige Freunde“ gibt, die Nachfrage allerdings auch nicht höher sei. Dieser Ausspruch ist uns bis heute als Aphorismus im Kopf geblieben. Weshalb und inwiefern ihre Behauptung der Wahrheit entspricht, werde ich im folgenden Text erörtern.
Ein elementarer Bestandteil einer jeden Freundschaft ist Aufrichtigkeit, da wir ohne diese kein Vertrauen aufbauen können. Wie sollte man schließlich jemanden trauen, dessen wahre Meinung und Absichten man nicht kennt? Dennoch können nur die wenigsten Menschen von sich behaupten, wirklich aufrichtig zu sein. Das kann verschiedenen Gründen zugrunde liegen. Durch das schlechte soziale Klima, welches weitläufig herrscht, haben viele Leute Angst davor, ihre wahre Meinung preiszugeben, da sie ausgelacht, ausgeschlossen und verhöhnt werden könnten, weil heimlich hinter ihren Rücken über sie sprechen, sie denunzieren, und sich eine schlechte Meinung über sie bilden könnte. Und diesen Gedanken ertragen viele nicht. So etwas ist auch schon oft genug unter sogenannten Freuden – wir vergeben diesen Ehrentitel schon fast leichtsinnig schnell – passiert. Deshalb offenbart man nicht, was einem durch den Kopf geht, was man wirklich denkt. Die meisten möchten schließlich gefallen, gemocht werden, auch wenn das bedeutet, sich selbst zu verleumden. Dabei gehört viel Geistes- und Charakterstärke dazu, genau das Gegenteil zu tun. Wir sind am Schönsten, wenn wir uns selbst verkörpern und nicht die festgefahrenen, einschlägigen, Individualität unterdrückenden Idealvorstellungen der Gemeinheit. Niemand sollte im Großen und Ganzen dem Konformitätsdruck unterworfen sein (nur, wenn es dem Wohl und der Freiheit aller dient). „Immer die Wahrheit zu sagen, bringt einem wahrscheinlich nicht viele Freunde ein, aber dafür die richtigen:“, wie John Lennon treffend bemerkte. Wozu viele „Freunde“ haben, die deine Meinung nicht schätzen, als ein einziger, der dies tut? Und weshalb sollte man sich jemanden offenbaren, wenn derjenige nicht ebenso aufrichtig ist? Wie soll es dabei eine innige Verbindung geschmiedet werden?
Nun ist es aber leider so, dass viele deine aufrichtigen Ansichten nicht wissen wollen. Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass die Menschen verlernt haben, zuzuhören. Meist erachtet man das, was wir selbst zu einem Thema beizutragen haben als wichtiger. Außerdem kann die Mehrzahl nicht mit Kritik umgehen und will sie folglich auch nicht hören, da „ein Dutzend verlogener Komplimente […] einfacher zu ertragen“ sind, und dabei stimme ich Marc Twain großteils zu, „als ein aufrichtiger Tadel.“ Dabei sind gerade diese von unfassbaren Wert, wenn wir uns verbessern, unser Potential vollkommen ausschöpfen wollen. Und unsere wahren Freunde helfen uns dabei. Die falschen jedoch gönnen einem den Erfolg jedoch nicht. Und wir ihnen häufig ebenso nicht, wenn man ehrlich mit sich ist. Deshalb sagen viele im Endeffekt nicht das, was sie auch wirklich meinen. Es könnte einem helfen. Vielmehr wird heutzutage viel zu selten offen seine Meinung kund getan, die den einzigen Zweck besitzt, einem zu helfen, und dazu beiträgt, dass man entweder etwas verbessert oder sich selbstbewusster fühlt. Gut gemeinte Kritik ist eine Seltenheit. Und das liegt an eben just jenen Menschen, die ausfallend sind und damit andere verletzen, woraufhin diese auf nahezu jeden gut gemeinten Ratschlag wie angegriffen reagieren, glauben sie doch, erneut als Person an sich attackiert worden zu sein. Manch einer kann die Wahrheit auch nicht ertragen, möchte sich nicht in all seinen Facetten kennenlernen, die sowohl gute als auch schlechte Aspekte besitzen. Womöglich kränkt sie die Aufrichtigkeit nur und erkennen nicht, wie wertvoll diese ist, dass sie ebenfalls interessant sein kann.
Dabei ist das ein weiterer Grund, weshalb es nur „wenig aufrichtige Freunde“ gibt. Niemand möchte verletzt werden. Oft zeugt die Furcht vor Verrat auch von früheren Erfahrungen. Man hatte sich dem Falschen anvertraut, wurde angelogen und hintergangen. Beispielsweise vertraute man seinem angeblichen Freund ein Geheimnis, welches unter gar keinen Umständen an die Öffentlichkeit dringen sollte, an, und dieser gab es an jemand anderen weiter. Schlimmer noch, diese erheiterten sich darüber. Und mit jedem fatalen Ende einer „Freundschaft“ wurden die Bindungsängste immer größer. Irgendwann beginnt man, an sich selbst zu zweifeln, gibt sich selbst die Schuld am Scheitern und entwickelt Minderwertigkeitskomplexe. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass richtige Freunde gut für die Psyche sind und das Risiko für Depressionen minimieren. Auch stärken sie unser Selbstwertgefühl. Ohne sie ziehen wir uns mental zurück. Man wird es irgendwann leid, ständig auf der Suche zu sein, ohne jemals zu finden. Wie Homer einst sagte: „Es ist nicht so schwer, für einen Freund zu sterben, als einen Freund zu finden, der es wert ist, dass man für ihn stirbt.“ Und wenn wir diesen erst einmal gefunden haben, lassen wir ihn nie wieder gehen. Es gibt noch mehr Gründe, weshalb die Menschen nicht aufrichtig sind, doch so viel erst einmal dazu.
Demnach stellt sich mir die Frage, weshalb die Nachfrage nach diesen so gering ist, wo sie doch solch eine unbezahlbare Kostbarkeit darstellen. Die Faktoren, weshalb es nur wenig aufrichtige Freunde gibt, spielen auch darin mit hinein. Aber vor allem die Oberflächlichkeit einiger Menschen verhindert das Entstehen einer innigen Beziehung. Das war vor 200 Jahren schon so und hat sich bis heute nicht geändert. Das Meiste wird viel zu oberflächlich gehandhabt, ohne Tiefgang. Beispielsweise bei Gesprächen. Schon vor diesen fängt man damit an, indem man sich nur solch einen Gesprächspartner aussucht, der einem vom Äußerlichen her anspricht. Innerhalb von zwei Sekunden entscheiden wir, ob wir eine Person mögen oder nicht. Dabei wird vor allem Wert auf Figur, Kleidung, Geschlecht, Nationalität, Alter und oftmals auch auf den gesundheitlichen Stand gelegt. Häufig werden Personen nur deshalb ausgegrenzt, weil sie den gängigen Schönheitsidealen nicht entsprachen. Von der Hautfarbe und Sexualität fange ich gar nicht erst an. Dabei ist es ganz gleich, welche äußere Erscheinungsform wir besitzen, denn diese ist lediglich von geringerer Bedeutung als der Inhalt unseres Herzens. „Alle anderen Dinge sind nur wie das Glas einer Lampe, aber du bist das Licht, das darin scheint. „, wie Cassandra Clare in einem ihrer Bücher schrieb.
Durch unsere Vorurteile verpassen wir manch eine Gelegenheit, wunderbare Menschen kennen zu lernen. Nichtsdestoweniger führen wir auch die Konversationen mit den Personen, welche wir abgesegnet haben, viel zu seicht und banal. Man erzählt viel, aber doch nichts wirklich Tiefgreifendes, und sollte dieser Umstand doch einmal in Kraft treten, wird meist nicht nachgehakt oder wirklich daran Anteil genommen. Das ist wiederum der Tatsache geschuldet, dass manch einer zu selbstbezogen ist. Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir uns nur aus dem Drang heraus unterhalten, um das Gespräch am Laufen zu halten, statt aus wirklichem Interesse.
Zudem erscheint es mir, dass viele Menschen nicht mehr wissen, dass es auch anders, besser geht. Für sie ist es wie immer. Und weshalb sollten sie etwas vermissen, von dessen Existenz sie keine Ahnung haben? Vor allem, wenn man von seinen Eltern auch nicht anders kennt. Wenn sie den Verlust nicht spüren, weil sie es nie besessen haben. Ihnen ist das Streben nach Höherem abhanden gekommen. Sie geben sich mit dem Bisschen, was sie „Freundschaft“ nennen, zufrieden. Aber das ist nicht bei allen der Fall. Ein paar Glückliche besitzen das Privileg, eine derartige Freundschaft ihr eigen zu nennen. Und dann gibt es diejenigen, welche darum wissen, vielleicht einen Tropfen aus dessen heiliger Quelle gekostet haben, und deshalb nach mehr streben. Doch nach jeder Enttäuschung auf der langen Suche nach Gleichgesinnten steigt das Ausgelaugtsein an und irgendwann gibt man auf. Und das beweist mal wieder, dass Wissen Segen und Fluch zugleich sein kann.
Indes liegt es nicht immer nur an den anderen Personen, sondern manchmal auch einfach an einem selbst. Ein paar wenige finden ihren Seelenfrieden damit, in sich selbst zu ruhen, Selbsterforschung zu betreiben und daran zu wachsen. Sie bilden eine Burg, die gestählt ist gegen den Großteil der äußeren Einflüsse; sie sind ihr eigener Herr. Und warum sollte man damit beginnen, die Tiefen eines anderen zu ergründen, wenn in einem selbst so viele ruhen, darauf wartend, geweckt zu werden. Leidenschaften und Berufung sind auch ein existenzieller Bestandteil dieser Personen. Wenn wir etwas mit Inbrunst ausüben, uns dieser Tätigkeit mit Leib und Seele hingeben, kann es schwer werden, sich genug Zeit für andere zu nehmen. Schließlich will man selbst noch so viel erschaffen, sodass das Leben viel zu kurz erscheint. Vor allem, wenn diese Tätigkeit nur dann ausgeführt werden kann, man ganz für sich selbst ist. In dem Fall ist es eher zweitrangig, ob die Freunde aufrichtig sind oder nicht. Sicherlich möchte man wissen, was sie ehrlich zu sagen haben, aber kann man diesen wirklich zumuten, immer abrufbereit und aufrichtig zu sein, wenn man selbst mit dem Kopf häufig wo anders ist?
Doch genug davon. Vielleicht fragen sich mittlerweile, welch weitere hehren Tugenden und Ideale Freundschaft verkörpert, da die Sehnsucht nach solch einer so unermesslich stark ist. Laut Jim Morrison ist „ein Freund […] jemand, der dir völlige Freiheit gibt, du selbst zu sein.“ Und das ist etwas sehr wertvolles. Es meint vor allem, dass du, egal was passiert, jemanden an deiner Seite hast, der dir den Rücken stärkt und dich unterstützt, wo er kann, was andersherum ebenfalls selbstverständlich ist. Jemand, der dich kennt, all deine guten und schlechten Seiten, Macken und Albernheiten sowie Eigenschaften, Stärken, Schwächen und Ansichten. Und genau deshalb mag diese Person dich (und du ihn), weil du einfach du selbst bist, wie kompliziert und enervierend das manchmal auch sein mag. Du reichst dieser Person voll und ganz. Dabei müsst ihr nicht notwendigerweise die selben Interessen besitzen, um wahrhaftige Freunde zu sein. Ihr müsst euch „nur“ ergänzen. Ich bin sogar dazu geneigt zu sagen, dass man genau dadurch nicht nur eine Seite der Karte sieht. „Wir sehen unser besseres Ich in den Augen derjenigen, die uns lieben.“ Ein Freund sieht all dein Potential und gibt dir die Chance, zu wachsen, dich zu entfalten und deinen Neigungen nachzugehen. Noch besser, er ist bei dir und dabei behilflich, weil er dich wachsen sehen möchte, dir deinen Erfolg von Herzen gönnt. Dabei bleibt er jedoch stets dein fester Ankerpunkt und sicherer Hafen, jemand, der dich erdet und daran erinnert, wer du wirklich bist. Selbstverständlich beruht das auf Gegenseitigkeit. Das Wohlergehen deines Freundes stellst du über dein eigenes, ohne jemals bei gravierenden Dingen zu lügen, da du weißt, dass er stark genug für die Wahrheit ist. Durch dich. Dieser kann es verkraften, weil du da bist und ihn auffängst. Freundschaft ist lediglich eine andere Ausdrucksform der Liebe.
So stand es auch schon im 1. Buch Samuel, Kapitel 18, Vers 1-3, der Bibel geschrieben (fürs Protokoll, ich bin Atheist): „Und da […] verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigen Herz. […] Und Jonathan und David machten einen Bund miteinander; denn er hatte ihn lieb, wie sein eigen Herz.“ Dieser Bund meinte den innigen Zusammenhalt, treue Anhänglichkeit und gewaltige Kraft der Freundschaft. Man kann diesen in jeglichen Kulturen, in jeglichen Zeiten finden. Sei es in den griechischen Liebesidealen, den „Philia“, oder in chinesischen Geschichten. Das Sprichwort „zhin yin“, was „die Musik verstehen“, bedeutet, und „enge Freundschaft“ oder „Seelenverwandtschaft“ meint, ist dort bis heute gängig. Der Begriff „Seelenverwandtschaft“ ist auch bei uns noch im Gebrauch, obwohl diese nur in seltenen Fällen zutrifft. Doch wie gelangt man nun zu einem so engen Band?
Es kostet Überwindung, Vorurteile beiseite zu schieben und sein Innerstes zu offenbaren. Mehr, als man meinen sollte. Doch genau das macht einen mutig. Und hat man erst einmal die erste große Hürde überwunden, wird es vielleicht nicht einfacher, so doch wenigstens gewohnter. Natürlich ist es harte Arbeit, sich seinem Gegenüber als würdig zu erweisen. Doch im Endeffekt wird es sich mehr als lohnen. Man meldet sich bei einander, nicht, weil man etwas braucht, sondern sich nach dessen Nähe sehnt. Es erfolgen Austausch um Austausch: Über das Leben, Gefühle und Gedanken. Es wird zusammen gelacht und geweint. Man geht durch dick und dünn. Kein Streit kann jemals so schlimm sein, als dass dieser beide auseinander bringt. Freundschaft ist ein ständiges Geben und Nehmen, eine Konstante im stets im Wandel begriffenen Leben. Man unternimmt viel zusammen, ohne dabei permanent reden zu müssen, denn ihr versteht euch auch ohne Worte. Stille stellt kein unangenehme dritter Partner, jemand, der zwischen euch steht, dar, sondern lässt Raum für eigene Gedanken, die sich zu einem Teppich weben. Vertrauen wird immer weiter aufgebaut, stützt einander. Dein Freund hat mit die größte Macht darüber, dich zu verletzen. Doch er tut dies nicht, zumindest nicht ernsthaft. Und dann bemerkt man eines Tages, dass es so einfach wie Atmen ist, so selbstverständlich. Es kommt einem glatt absurd vor, dass es anders sein könnte. Man denkt, dass es sich wie eine Amputation anfühlen müsste. Ein schrecklicher Verlust. Der Wert dieses Freundes ist einem immer im Hinterkopf erhalten. „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern.“ (Menzius) Und deshalb wünsche ich mir für dich, dass du, wenn du noch nicht einen derartigen Seelenverwandten gefunden hat, auf der Suche bleibst oder zumindest an die jetzigen Freundschaften anders heran gehst.
Klasse 9